Scienceblogs ist nicht Twitter. Ich jedenfalls bin nicht mit meinem Blog angefangen zum alleinigem “Re-Tweeten” anderer Meldungen. Der Beitrag der “Unstatistiker” zum Thema Corona-Pandemie ist lesenswert weil sachlich, aufklärend und weiterführend. Auch die Zeit hat diesen Artikel leicht verändert aufgegriffen und der Titel ist diesmal gut ausgewählt: “Einzelinformationen bringen einen vom Weg ab”. Und weil es wichtig ist, dass nicht die Ich-weiß-es-aber-besser-Fraktion oder die Mein-Nachbar-hat-aber-erzählt-Fraktion oder die Ich-als-Heilpraktiker-Fraktion oder gar die Ist-doch-eh-alles-Fake-Fraktion … das Meinungsbild formen steht hier dieser Beitrag über andere Artikel.
Die überwiegend besorgten Kommentatoren in meinem Einwurf zu den Thesen des Herrn Bhakdi tendieren sich auch in manchem “Ja, aber dies und aber das” zu verlieren. Dann kann man in der Tat die Ausgangsbeschränkungen “grotesk” finden. Also ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die Einzelinformationen die Gesellschaft vom Weg abbringen können; Fokus auf das Unwesentliche birgt die Gefahr falscher Entscheidungen. Die “Unstatistiker” sagen es noch einmal unmissverständlich:
So zeigen Modellrechnungen sowohl des Robert Koch-Instituts als auch der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie, dass es unerheblich ist, ob die Reproduktionsrate nun in der Realität bei 2,5 oder bei 1,5 liegt: Wird der Reproduktionsfaktor nicht rasch in Richtung des Wertes 1 gedrängt, wird das deutsche Gesundheitssystem innerhalb kürzester Zeit kollabieren.
Die Reproduktionssrate hat Joseph Kuhn neben an bereits erläutert und auch auf die Konsequenz exponentiellen Wachstums hat Florian Freistetter hier auf Scienceblogs bereits am 12. März — also vor den Schulschliessungen — bereits hingewiesen. War das Weitsicht? Nein! Ich hatte ja schon auf diesen schönen online-Rechner hingewiesen, alle können damit (oder mit anderen Rechnern) quelloffen nachvollziehen, dass es für die Zahl derjenigen, die ins in Krankenhaus müssen irrelevant ist, wie die Reproduktionsrate genau aussieht. Folglich ist es auch ziemlich egal, ob einige Tests falsch positiv sind, wie im Thread zu meinem vorherigen Artikel angemerkt. Der Artikel der “Unstatistiker” kommt auf den Punkt:
Wir beobachten seit dem 15. März eine tägliche Wachstumsrate der Infizierten von ca. 23 Prozent, d.h. die Zahl der Infizierten verdoppelt sich alle 3 Tage. Verwendet man allein zum Zweck der Verdeutlichung ein exponentielles Wachstumsmodell und startet man mit 6.000 Infizierten (ca. die Anzahl der Infizierten am 15. März), wären innerhalb von 14 Tagen knapp 109.000 Personen infiziert, nach 30 Tagen nahezu 3 Millionen.
So wären beispielsweise bei 1,5 Million Infizierten und einem Anteil schwerer Verläufe von nur 3% die in Deutschland verfügbaren Intensivkapazitäten selbst dann schon bei weitem ausgereizt, wenn man dort keinerlei andere schwere Fälle zu behandeln hätte.
Nicht nur hier auf Scienceblogs auch in der Presse wurde dies in den letzten Woche immer wieder, immer deutlicher gesagt: Sobald die Intensivkapazitäten nicht ausreichen, ist es egal
- wann genau dieser Punkt erreicht wird und folglich wie viele Infizierte es an einem gegebenen Starttag der Rechnung gibt – sie verlagern nur diesen Zeitpunkt
- wie groß die Reproduktionsrate genau ist (ist sie klar größer 1, kommt der Punkt unterschiedlich schnell, aber er kommt)
- wie groß genau der Anteil derjenigen ist, die der Intensivpflege bedürfen. (Obwohl grobe Unterschiede dieses Anteils durchaus einen Unterschied machen. Das der Anteil nicht verschwindend gering zeichnet sich jetzt schon ab.)
- wie genau die Tests sind – insbesondere Zweifel bzgl. kleiner Unterschiede in der Falschpositivrate sind irrelevant (Die Falschpositivrate wird nicht groß sein, da die bisherigen Tests gut validiert sind. Die Tests sagen etwas über unser Wissen aus, nicht über den tatsächlichen Verlauf. Insbesondere auf den Zeitversatz zwischen Infektion und Test gehen die verlinkten Artikel ein.)
Schon jetzt sind die Todesraten über die Prognose geklettert, die einige Kommentatoren im letzten Thread beruhigend fanden. Vor allem aber
Ob die verschärften Maßnahmen wirken, können wir aber vermutlich frühestens in ein bis zwei Wochen beurteilen. Insofern muss der Politik die Zeit gegeben werden, den Erfolg der Maßnahmen zu evaluieren. Die Strategie, der Ansteckungsdynamik durch eine konsequente Verringerung der sozialen Kontakte die Spitze zu brechen, sollte nicht durch Frustration über die ausbleibende Wirkung dieser Maßnahme in Frage gestellt werden, noch bevor sich diese Wirkung überhaupt erst in den Daten zeigen kann.
Unsere Wissen durch bessere und schnellere Tests zu verbessern, ist von großer Bedeutung für die anstehenden Entscheidungen in den nächsten Wochen und Monaten. Und auch die Petition der “Unstatistikerin” Katharina Schüller zielt in diese Richtung: Durch stichprobenartige Erfassung der Bevölkerung können wir besser Erkennen wer dem Virus bereits ausgesetzt war (ggf. ohne Symptome), wie gut es also die “Herdenimmunität” steht. Die bisher verwendeten Tests sind bereits ziemlich gut, sensitiv und spezifisch. Kein diagnostischer Test ist perfekt, die Erkennung von Infektionen hinkt im Fall von SARS-Cov-2 einige Tage der Infektion und dem Test hinterher. Testergebnisse werden übermittelt und zentral erfasst. All dies kostet Zeit und geht auf Kosten der Genauigkeit. Die Zeiträume kennen wir, die Testqualitität auch – also kann das das berücksichtigt werden. Für das massenhafte Testen gibt es Fortentwicklungen (s. Unstatistik-Artikel), folglich wird es Verzerrungen in der Datenlage geben (weil hoffentlich bald sehr viel mehr getestet wird, werden die Infektionsraten scheinbar schnell anschwellen).
Wir können mit solchen Stichproben besser modellieren, welche Entscheidungen wohin führen und die Politik hat bessere Daten, auf die sie sich stützen kann. Denn die möglichen Strategien sind übersichtlich, aber es ist absolut entscheidend für unser Zusammenleben wann welche Entscheidung getroffen wird — und ob es die richtige sein wird. Die Fragen nach der besseren Schätzung von Quoten (Welcher Anteil der Infizierten muss ins Krankenhaus? Wie groß ist die regionale Letalität genau?) ist dabei zweitrangig — und doch interessant.
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Update: Mir ist entgangen, dass es bereits zwei Arbeiten gibt, die sich mit der Frage befassen “Was passiert, wenn wir Maßnahmen lockern?”[Ferguson et al., 2020] sowie dies.
Update Nr. 2: Sowohl Gerd Antes beim Spiegel, als auch Gerd Gigerenzer bei der Zeit, monieren die Unzuverlässigkeit der bisherigen Zahlen.
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