1926 starb in Detroit ein Rechtsanwalt und hinterließ ein gedrucktes Büchlein voller unverständlicher Buchstaben. Mit Hilfe einiger Blog-Leser bin ich der Lösung inzwischen deutlich näher gekommen. Trotzdem kann bisher niemand dieses Büchlein lesen.

 

Der besagte Rechtsanwalt hieß Emil Snyder. Offenbar wurde er 1867 in Deutschland geboren, vielleicht unter dem Namen Emil Schneider. 1926 verstarb er in Detroit. Er hinterließ ein neunseitiges, ledergebundenes Heft im Format 9×11 Zentimeter (alle neun Seiten sind im Folgenden abgebildet). Dessen Inhalt besteht aus unverständlichen Buchstabenfolgen – möglicherweise eine Verschlüsselung.

Gut 50 Jahre später machte ein Detroiter Journalist die Fachzeitschrift Cryptologia auf dieses Kryptogramm aufmerksam. 1978 veröffentlichte die Cryptologia die neun verschlüsselten Seiten (Ausgabe 4/1978, S.368). Im Artikel wird das Kryptogramm als Action-Line-Chiffre bezeichnet – nach der Zeitungsrubrik, für die der besagte Journalist schrieb. Da es sich genau genommen nicht um eine Chiffre (also ein Verschlüsselungsverfahren), sondern um ein Kryptogramm (also einen verschlüsselten Text, den es zu lösen gilt) handelt, bezeichne ich es als “Action-Line-Kryptogramm”.

Action-Line-1

Die Cryptologia ist nach diesem einen Artikel nie wieder auf das Action-Line-Kryptogramm eingegangen. Auch sonst taucht diese Sache in der mir bekannten Literatur nirgendwo auf – geschweige denn, dass die Lösung veröffentlicht worden wäre. Im Februar veröffentlichte ich das Action-Line-Kryptogramm in Klausis Krypto Kolumne. Ich erhielt einige interessante Hinweise.

Nachdem mir der Blog-Leser Flohansen den Tipp, es handle sich um „Mnemotechnik, die sich erst erschließt, wenn man den Plaintext kennt“ gegeben hatte, wurde mir auf einmal klar, wie das Action-Line-Kryptogramm entstanden ist. Es ist vermutlich ein normaler Text, bei dem von jedem Wort nur der erste Buchstabe abgedruckt ist. Dafür sprechen folgende Argumente:

  •     Die Buchstabenhäufigkeiten entsprechen recht gut den Häufigkeiten der Anfangsbuchstaben in der englischen Sprache.
  •     Der jeweils erste Buchstabe am Abschnittsanfang bzw. nach einem Punkt ist groß geschrieben – wie im Englischen.
  •     Ansonsten dominieren Kleinbuchstaben – wie bei englischen Wortanfängen üblich.
  •     In den Überschriften finden sich nur Großbuchstaben – im Englischen wird in Überschriften fast alles groß geschrieben.
  •     Auch die Kommasetzung, die Satzlängen und ähnliche Merkmale stimmen mit dem überein, was im Englischen zu erwarten wäre.

Der Blog-Leser Armin Krauß machte mich auf folgendes aufmerksam: Viele Buchstabenkombinationen im Action-Line-Kryptogramm erinnern an Abkürzungen, wie sie die Freimaurer verwenden. So könnten FD für First Degree und OTDO für “Or The Degree Of” stehen.

Action-Line-2-3

Dann meldete sich im Mai der Leser Gordian Knauß. Er schrieb: „Es dürfte sich beim Action-Line-Kryptogramm um eine Beschreibung der untersten Initiationsstufe der Oddfellows handeln.“ Die Oddfellows sind eine Organisation, die den Freimaurern in vielerlei Hinsicht ähneln. Knauß nannte einige Argumente:

  • Die Überschriften: I steht für Initiatory, DOTSL für Degrees of the Subordinate Lodge; FD, OTDOF für First Degree, or the Degree of Friendship; SD, OTDOBL für Second Degree or the Degree of Brotherly Love; TD, OTDOT für Third Degree or the Degree of Truth (Quelle).
  • Die Passage “AYLFME” […] “FY” findet sich in einem Gedicht eines hochrangigen Oddfellow als “Are you looking for me” “For you (my Brother)” (Quelle).
  • Die unmittelbar auf die Benamung der Grade folgenden Zeilen “I t D t i a A a t i d, a P, a E o t P W, a C, a A t t C, a S, a A tt S … ” konnte ich in sehr ähnlicher Form im Handbuch eines höheren Grades (in der Ausgabe von 1909) finden. Zitat: In this degree there is an Alarm at the inner door, [or Entersign;] a Password and Explanation of the Password; a Sign and Answer to the Sign; a Check Sign and Answer; and a Grip. (Quelle).
  • Letztere Seite enthält neben der oben verlinkten Fassung auch “aktuellere” Ritualbeschreibungen aus den 50ern und 70ern.

Das klingt alles sehr plausibel. Ich schickte daher eine E-Mail an die Oddfellows-Deutschlandzentrale in Berlin. Ich erhielt eine ausführliche und freundliche Antwort. Sie lautete sinngemäß: Wir kennen dieses Büchlein nicht, wollen aber auch nicht ausschließen, dass es von den Oddfellows stammt. Daraufhin schrieb ich eine weitere Mail an die Oddfellwos in den USA. Die Antwort war dieses mal sehr kurz: “Not familiar with the publication.”

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Kommentare (20)

  1. #1 Alexander
    7. Juni 2013

    a C, a A t t C

  2. #2 Fliegenschubser
    8. Juni 2013

    Sehr faszinierend, dieser Artikel, wie auch der Vorgänger. Bitte unbedingt weiter machen!

    • #3 Klaus Schmeh
      8. Juni 2013

      Danke für das Lob. Ich mache gerne weiter.

  3. #4 Alexander
    8. Juni 2013

    Ups, mein gestriger Kommentar ist ja nur halb:
    a C, a A t t C
    A Code (word), an Answer to the Code (word)

    NAch diesem Schema kann man schon große Teile erkennen. Ich denke, das ist das Handbuch für die Regeln der Oddfellows in mnemotechnischer Form.

  4. #5 Gordian
    8. Juni 2013

    @Alexander
    Ja, ich denke auch, dass diese Übereinstimmungen zu auffällig sind um ein reines Zufallsprodukt zu sein.

    Ich werde in der kommenden Woche schauen ob ich anhand der verfügbaren Unterlagen zu den Odd Fellows eine 90%+ Version erstellen kann.

    Viele Grüße
    Gordian

  5. #6 Dr. Webbaer
    9. Juni 2013

    Ist eigentlich die Grundannahme richtig, dass ein einmal verschlüsselter Inhalt, bestimmte Standards gewährleistend, grundsätzlich nicht entschlüsselbar ist, wenn der Schlüssel unbekannt bleibt?

    MFG
    Dr. W

    • #7 Klaus Schmeh
      9. Juni 2013

      Nein, das ist nicht undebingt gewährleistet. Es hängt von der Qualität des Verfahrens ab. Bei einem weniger guten Verfahren kann man die Verschlüsselung auch ohne Schlüssel lösen.

  6. #8 Taylor
    9. Juni 2013

    Faszinierendes Thema und sehr gut aufbereitet, wie auch die vorherigen Beiträge und, dessen bin ich mir sicher, die hoffentlich vielen, die noch kommen.
    Vielen Dank, Herr Schmeh!

  7. #9 Bernhard Gruber
    10. Juni 2013

    Klaus,
    sobald man sich etwas in die Materie eingelesen hat, macht vieles Sinn. Ihre bisher ermittelte “Langform” des ‘Degree Of The Subordiante Lodge’ (DOTSL, Seite 5) weist auch nur wenig Lücken auf. Dabei spielt es auch keine Rolle, dass ‘Password’ einmal nur mit ‘P’ in der dritten Zeile abgekürzt wird und in der darauffolgenden Zeile mit ‘P.W.’. Der Zweck dürfte klar sein, wie hier auf Seite 5 (https://www.ephesians5-11.org/pdf/mmdeg.pdf) erklärt ist: “Masonic “Cyphers” are commonly used as a memory aid for those who are learning ritual.”
    Gehe ich richtig in der Annahme, dass es dann hier weniger um die Entzifferung geht, als vielmehr um die Verifizierung durch Auffinden des Originalsdokuments?

  8. #10 Gordian
    15. Juni 2013

    Hallo Bernhard,

    Wenn die Hypothese richtig ist, dann ja. Ich habe mittlerweile weitere Textteile durch einen Abgleich mit weiteren Texten ausschreiben können. Vor allem eines hatte mich bislang gefuchst: Dass ich die Überschrift des Textes nicht zuordnen konnte. Mittlerweile gehe ich davon aus, dass T.U.W. für The Unwritten Work steht, es handelt sich dabei um auch für Mitglieder der Vereinigung nicht ausgeschrieben verfügbare Texte der Oddfellows. Es wird unterschieden zwischen written work, welches beim Erlangen eines Grades übergeben wird bzw. bezogen werden kann und unwritten work, welches lediglich bei der Großloge als eigentlicher Text vorliegt. Vermutlich bekommen Mitglieder der entsprechenden Grade dann diese Mnemo-Aids für Teile des Unwritten Works, die sie benötigen.

    Viele Grüße
    Gordian

  9. #11 Gordian
    19. Juni 2013

    Von der 90% Version bin ich leider noch weit entfernt… aber etwa 15% des Textes habe ich anhand der verfügbaren Texte zu den Oddfellows in “wahrscheinlich zutreffendes” umwandeln können.

    Ich habe am Wochenende Kontakt mit den Oddfellows Michigan aufgenommen und werde schauen, ob es hier neue Erkenntnisse gibt.

    Viele Grüße
    Gordian

    • #12 Klaus Schmeh
      19. Juni 2013

      Hört sich gut an. Bin gespannt.

  10. #13 Tobias
    24. Juni 2013

    “Streng genommen ist die Action-Line-Chiffre keine Verschlüsselung, sondern eine Folge von abgekürzten Wörtern. Vermutlich wird man sie nur lösen können, indem man den ausgeschriebenen Text findet.”

    eindeutig ein versauter Text ^^

    O Y H, F Y !!

    • #14 Klaus Schmeh
      24. Juni 2013

      FY waren die Buchstaben, die mich auf diese Idee gebracht haben. Sie bedeuten aber wohl etwas anderes, als ich zunächst gedacht habe.

  11. #15 schmidtchen
    9. Juni 2014

    Sie schreiben tolle Artikel und auch für mich verständlich.
    Meine Frage: Wenn der Schlüssel so lang ist, wie der
    Klartext, und dieser Schlüssel nicht mit einem Algorithmus
    aus einem kurzen Schlüsselwort erstellt wird, ist der Geheimtext dann sicher?

    • #16 Klaus Schmeh
      12. Juni 2014

      Wenn der Schlüssel so lang ist wie der Klartext und dieser Schlüssel zufällig ist (also nicht mit einem Algorithmus generiert und auch sonst nicht erratbar) und wenn der Schlüssel zur Nachricht addiert wird, dann ist das Verfahren (One-Time-Pad) sicher.

  12. #17 Nick Pelling
    28. Juni 2014
    • #18 Klaus Schmeh
      28. Juni 2014

      Thank you very much! I will report on this in my blog next week.

  13. #19 Dennis
    23. März 2018

    Kann unter der Überschrift vielleicht THe true Story is im stehen würde passen von den buchstaben her

  14. #20 x3Ray
    9. September 2019

    @Klaus Wäre es nicht sinnvoll, das “Kryptogramm” als gelöst zu kennzeichnen? #17 Nick Pelling hat ja den Text mehr oder weniger auf seiner Seite stehen.