Eine neue Forschungsarbeit zum Voynich-Manuskript hat einigen Wirbel ausgelöst. Mehrere Experten haben inzwischen Kritik daran veröffentlicht.
Eine der bekanntesten Hypothesen zum Voynich-Manuskript stammt vom britischen Linguisten Gordon Rugg. Wie Rugg 2004 einem Artikel in der Fachzeitschrift Cryptologia beschrieben hat, könnte der Voynich-Manuskript-Text mit folgender Methode entstanden sein: Man nehme einige Dutzend Buchstabenkombinationen oder Einzelbuchstaben (etwa QO, CHE, DY, QO, K, SHE, ODY, T, Y und einige weitere) als Bausteine und setze diese zu Fantasiewörtern und einem Fantasietext zusammen. Das Zusammensetzen erfolgt, indem man die Bausteine in eine Tabelle schreibt und in dieser mit Hilfe einer Schablone von einem Baustein zum anderen hüpft. Ein Fantasietext, der auf diese Weise entsteht, liest sich etwa wie folgt: QOTDY QOSHEY OCHEDY QOCHEDY QOKODY TY…
Allerdings gibt es gegenüber Ruggs Hypothese einen offensichtlichen Einwand: Es liegen inzwischen etwa 20 statistische Untersuchungen vor, die belegen, dass der Text des Voynich-Manuskripts Ähnlichkeit mit natürlicher Sprache hat. Eine neue Untersuchung von Marcelo A. Montemurro und Damián H. Zanette deutet in die gleiche Richtung. Die Frage ist also: Kann man mit dem von Rugg vorgestellten (sehr einfachen) Verfahren wirklich Pseudotext generieren, der 20 typische Eigenschaften von natürlicher Sprache hat? Und das, ohne zu wissen, was man tut (der Urheber des Voynich-Manuskripts konnte vor 500 Jahren von Sprachstatistik noch keine große Ahnung haben)?
Auf den ersten Blick erscheint mir das ziemlich unwahrscheinlich. Doch Gordon Rugg, mit dem ich diese Woche schon ein paar E-Mails ausgetauscht habe, sieht das anders. Unter anderem schrieb er mir: “I think it’s perfectly possible for a text produced using the table and grille technique to have a lot in common with natural language.” In seinen Veröffentlichungen hat Rugg schon mehrere Parallelen zwischen natürlicher Sprache und einem nach seiner Methode generierten Text aufgezeigt. Allerdings hat er hierbei längst noch nicht alle statischen Eigenschaften des Voynich-Manuskript-Texts, die für natürliche Sprache sprechen, betrachtet. Hier und hier gibt es zwei Stellungnahmen Ruggs zur Arbeit von Montemurro und Zanette.
Inzwischen hat auch der Voynich-Manuskript-Experte Nick Pelling Kritik an der Arbeit von Montemurro und Zanette veröffentlicht. Er meint, dass die statistische Methode von Montemurro und Zanette gar nicht die Wörter mit dem höchsten Informationsgehalt identifiziert und daher die Schlussfolgerung der Autoren von vornherein falsch sein muss. Leider fehlt mir das lingustische Fachwissen, um das beurteilen zu können. Eine weitere Kritik gibt es von Stephen Chrisomalis. Er unterstützt die Meinung von Rugg, dass die Ergebnisse nicht zwingend für natürliche Sprache sprechen.
Letztendlich sind wir damit in der Diskussion wieder an einem Punkt angelangt, an dem schon viele Voynich-Diskussion stecken geblieben sind. Das Problem: Während wir die statistischen Eigenschaften des Texts inzwischen sehr gut kennen, steckt die Interpretation dieser Eigenschaften bisher noch in den Kinderschuhen. Es gibt einfach zu wenig Fachwissen darüber, wie Sprache, Textform, Kodierung und Verschlüsselung bestimmte Textsstatistiken beinflussen. Hier besteht noch großer Forschungsbedarf.
Einstweilen wissen wir deshalb noch nicht, ob das von Rugg vorgeschlagene Verfahren (vielleicht mit geringen Abwandlungen) Unsinnstext produzieren kann, der dem Voynich-Manuskript-Text so sehr ähnelt, dass wir die Hypothese als richtig betrachten können. Trotzdem (oder gerade deswegen) kann man natürlich nach wie vor daran zweifeln, dass dies möglich ist.
Vor Kurzem hat Gordon Rugg übrigens ein (wie ich finde sehr interessantes) Buch veröffentlicht. Es heißt „Blind Spot“. Das Voynich-Manuskript spielt darin nur eine Nebenrolle. Hauptsächlich geht es um Psychologie. Die Aussage des Buchs kann man wie folgt zusammenfassen: Wenn es trotz großem Aufwand nicht gelingt, eine Frage zu beantworten, die eigentlich beantwortbar sein müsste, dann muss man überprüfen, ob die Frage überhaupt richtig gestellt ist. Als eine Anwendung dieses Prinzips stellt Rugg das Voynich-Manuskript vor. Seine These: Nachdem man es trotz größter Anstrengungen nicht geschafft hat, das Voynich-Manuskript zu entschüsseln, muss man sich fragen, ob es überhaupt entschlüsselbar ist. Nach Ruggs Meinung ist es das nicht. Stattdessen geht er davon aus, dass der Text mit der oben erwähnten Methode produziert wurde.
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