An der Grenze zwischen Weißrussland und Polen spielt sich gerade eine weitere Tragödie mit Migrant/innen ab. Diesmal geht es nicht darum, dass sie im Mittelmeer ertrinken, diesmal geht es darum, dass sie vielleicht in osteuropäischen Wäldern erfrieren und verhungern. Diktator Lukaschenko probiert mit Rückendeckung Putins aus, was so geht, um der EU Druck zu machen. Er betätigt sich als Schleuser von Menschen aus Nahost an die polnische Grenze, und die polnische Regierung versucht, ihm ebenso menschenverachtend die Stirn zu bieten. Dass Lukaschenko kein Problem damit hat, über Leichen zu gehen, hat er inzwischen zur Genüge unter Beweis gestellt, ebenso sein Geschick, uns ihm ähnlicher zu machen, als es uns lieb sein kann.
Eine Frage: Was verbindet so unterschiedliche Dinge wie Lukaschenkos Erpressungspolitik mit Trumps Rücksichtslosigkeiten, den Drohnenangriffen der USA im Irak oder in Afghanistan, dem Kampf von Koch Industries gegen den Klimaschutz, dem Erschießen von Journalisten auf offener Straße, Bolsonaros Zerstörung des Regenwalds, den Gaunereien Sauters oder radikalisierten Querdenkern, denen so egal wie all den andern ist, welche Lügen sie in die Welt setzen?
Eine Antwort: In all diesen Fällen geht es um das Missachten von Regeln, die ein zivilisiertes Miteinander ausmachen. Ohne solche Regeln gilt das Recht des Stärkeren, das kein Recht, sondern ein Unrecht ist. „Zwischen dem Starken und dem Schwachen, zwischen dem Reichen und dem Armen, zwischen dem Herrn und dem Diener ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit“, so Jean Baptiste Henri Lacordaire, zumindest wird ihm dieser Satz zugeschrieben.
In Gesellschaften, die ein Mindestmaß an Respekt für die Menschenwürde verbindet, wie gesagt, ein Mindestmaß, die Gemeinschaft der Heiligen gibt es nicht, entsteht Legitimität durch Verfahren (Habermas). In Gesellschaften, denen dieses Mindestmaß abgeht, erzeugen Verfahren bestenfalls kafkaeske Prozesse. Und wenn sich Führer finden, die sich durch Verachtung von Verfahren profilieren, und genug Unterstützung finden, wird die Barbarei als Option realistisch.
Die modernen Barbaren-Führer treten ein vielfältiges Erbe an: das des Neoliberalismus, der die Zersetzung des common sense zur Religion erklärt hat („there is no such thing as society“, Thatcher) ebenso wie das eines bürokratischen Kommunismus, der Legitimität durch Verfahren als Farce geradezu perfektioniert hatte, oder das einer erschöpften Demokratie, die nicht mehr weiß, warum Menschen gleiche Rechte und gleiche Stimmen haben sollen.
Wie gesagt, Verfahren alleine reichen nicht. Nur was folgt daraus? Böckenfördes berühmtes Diktum, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, ist so richtig wie perspektivlos. Wo wachsen diese Voraussetzungen, wer lässt sie wachsen? Die Kirchen, die traditionellen Hüter des Sinns, sind bei uns selbst zu großen Teilen leere Verfahrenshüllen geworden, mit etwas Weihrauch, der das vernebelt. Die vielzitierten „Werte des Westens“? Sie sind so absent wie die des Ostens. Bewegungen wie Ärzte ohne Grenzen, Amnesty, Fridays for Future? Vielleicht.
Die Verächter der Regeln kümmert all das nicht. Sie kommen auch ohne eine Ordnung aus, die die Schwachen zumindest auf Sozialhilfeniveau schützt. Dazu reicht ein Blick auf die Paläste, die sich Trump, Putin oder Erdogan leisten. Lukaschenko soll, so hört man, auch nicht im Schlafsack an der polnischen Grenze nächtigen. Für solche Leute ist Barbarei allemal eine Option.
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