Die Identitätspolitik feiert immer neue Höhepunkte. Links und rechts schenken sich da nichts, fast möchte man mit Ernst Jandl meinen, man könnte rinks und lechts velwechsern.
Großes Theater. Nach dem Gender-Sternchen tritt jetzt der Weihnachtsbaum auf die Bühne. Friedrich Merz sieht im Kauf eines Weihnachtsbaums ein zentrales Element der deutschen Leitkultur:
„Wenn wir von Leitkultur sprechen, von unserer Art zu leben, dann gehört für mich dazu, vor Weihnachten einen Weihnachtsbaum zu kaufen”
Eine menschenwürdige Pflege, bezahlbares Wohnen oder der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist vielleicht auch ehrlicherweise nicht als „unsere Art zu leben“ auszugeben. So weit, so gut. Aber musste es ausgerechnet der Weihnachtsbaum sein? Warum nicht Bayern München, das Sauerkraut, die Currywurst, ein dicker BMW oder die Kastelruther Spatzen?
Merz dachte vermutlich integrationspolitisch an die brutalstmögliche Herausforderung für Migrant:innen. Von mir aus auch für Migranten, als generisches Maskulinum gelesen. In vielen ihrer Herkunftsländer hat Nadelholz als Weihnachtsbaum keine Tradition, vermutlich gibt in manchen afrikanischen Ländern gar keine Nordmann-Tannen. Aber dachte er auch an den Senegal? Dort, wo der berühmte fußballspielende Ministrant herkommt, den man nicht mehr loswird? Dort scheint der Weihnachtsbaum, wenn man dem Evangelischen Pressedienst Glauben schenken darf, zur Leitkultur auch der dort lebenden Muslime zu gehören: „Nach dem Essen versammelt man sich um den Weihnachtsbaum, jeder bekommt sein Geschenk.“
Umstellen müssen sich dagegen sicher die Neuseeländer, und ihre Frauen. Mit dem Eisenholzbaum, der dort angeblich an Weihnachten geschmückt wird, kommen sie hier nicht durch. Da ist Merz vor. Unerbittlich. Allerdings werden auf deutschen Weihnachtsbaummärkten auch kaum Eisenholzbäume verkauft. Das erleichtert die Anpassung an die deutsche Leitkultur. Die Australier, ihnen wird eine Vorliebe für Plastikbäume nachgesagt, könnten einfacher integriert werden. Den Plastikbaum, der auch in Deutschland Verbreitung gefunden hat, hat Merz als Zeichen unserer Leitkultur nicht ausgeschlossen.
Der Weihnachtsbaum gilt übrigens in der Tat als deutsche Erfindung. Dummerweise blieb sie nicht exklusiv deutsch. Wikipedia schreibt: „Dieser Weihnachtsbrauch verbreitete sich im 19. Jahrhundert vom deutschsprachigen Raum aus über die ganze Welt.“ Hast du das gewusst, Friedrich?
Auch sonst hat Friedrich Merz die Eignung des Weihnachtsbaums als Prüfstein deutscher Leitkultur möglicherweise nicht sorgfältig recherchiert. Er schreibt:
„Es ist die Art von christlich-abendländisch geprägter kultureller Identität, die sich über Generationen überträgt, von der unsere Kinder geprägt sind, und die sie dann so oder so ähnlich selbst weitertragen.”
Mit dem „so ähnlich“ ist sicher der Plastikbaum gemeint, oder bei fortschreitendem Klimawandel die Weihnachtspalme. Aber ist es eine christliche Tradition? Manche sehen die historischen Wurzeln des Weihnachtsbaums bei den alten Germanen, die Kirche habe den Brauch früher als „heidnisch“ verurteilt. Eine nicht unstrittige These. Noch schlimmer wäre allerdings, hätte der NDR recht: „Auf der Suche nach den Ursprüngen der Weihnachtsbaum-Tradition wird man (…) weniger in der Bibel, sondern eher im Koran fündig“. Leitkulturellabschreckungstechnisch wäre das natürlich ein Totalschaden.
Helfen könnte vielleicht die identitätspolitische Eskalation der Weihnachtsbaumtradition: Müsste es nicht „Christbaum“ heißen? Ist Friedrich Merz hier einer woken Anwandlung zum Opfer gefallen?
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