Seit die autoritären Regime die Weltordnung nach dem Kalten Krieg herausfordern, ist auch die Diskussion um die „westlichen Werte“ wieder virulenter geworden: Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Mitmenschlichkeit, Menschenwürde werden dann meist genannt.
Sind das „westliche“ Werte? Sind es universalistische Werte? Und werden sie im „Westen“ gelebt oder nur rhetorisch bemüht, oder selektiv gelebt, oder mal mehr das eine, mal mehr das andere? Und wer ist Adressat, wenn diese Werte in Reden in Stellung gebracht werden? Wer sollte Adressat sein? Die autoritären Regime, die Bevölkerungen dort, unsere Regierungen, irgendwelche Eliten, wir selbst?
In der Süddeutschen Zeitung ist heute ein Meinungsartikel von Joachim Käppner: “Wenn wir es wollen“. Es ist eine Art Weckruf mit Durchhalteappell angesichts der aktuellen Kriege und Krisen. Beispielsweise wird Roosevelt zitiert, mit dem Mutmachersatz „Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst.“ Ist das so? Müssen wir uns nicht doch auch vor dem Klimawandel fürchten und nicht nur vor unserer Furcht davor? Und ist Putin nur ein Schreckgespenst?
Weiter fordert Joachim Käppner: „Mehr Resilienz wagen“. Dazu verweist er darauf, dass die „Demokratien (…) im stärksten Militärbündnis der Geschichte“ vereint seien. Daher müsse sich „der Westen“ (!) „nicht den Mut nehmen (…) lassen, für die eigenen Werte, für Freiheit und Menschenwürde einzustehen. Diese Werte sind die stärkeren.“
Was bedeutet das? Nach Käppner dies:
„In konkreter Politik kann das bedeuten, dass demokratische Parteien etwa bei Stichwahlen zusammenhalten gegen die AfD. Dass Europa die Ukraine noch viel stärker unterstützt, schon um US-Präsident Joe Biden den Rücken freizuhalten in seinem letzten großen Kampf für die Freiheit.“
Eine seltsame Kombination. Verdeckt sie vielleicht nur die Substanzlosigkeit dahinter? Müsste hier nicht vielmehr stehen, dass das in konkreter Politik bedeutet, Menschen nicht in unsäglichen Pflegesituationen verzweifeln zu lassen, sich um bezahlbaren Wohnraum zu kümmern, dafür zu sorgen, dass im Mittelmeer möglichst niemand auf der Flucht ertrinkt oder in Libyen gefoltert und in der Wüste ausgesetzt wird, den Hunger in der Welt wirksam und nicht nur symbolisch-caritativ zu bekämpfen? Frei nach Feuerbach ist die Menschenwürde kein dem Grundgesetz innewohnendes Abstraktum, sondern das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Den wahren Adressaten der Werte sieht Käppner allerdings ohnehin bei uns:
„Am Ende aber sind es die Bürgerinnen und Bürger, welche die Verantwortung dafür tragen, dass die Freiheit überlebt. Niemand nimmt den Wählern diese Verantwortlichkeit ab (…).“
Keine Frage: In einer demokratischen Gesellschaft haben wir alle unsere Verantwortung. In der Familie, in Elternbeiräten, bei der freiwilligen Feuerwehr, in Bürgerinitiativen, am Arbeitsplatz, z.B. im Betriebsrat, und auch bei Wahlen. Das ist das, was den „Werten“ zivilgesellschaftlich von unten zuwachsen kann. Dazu muss das kommen, was nur die politischen Institutionen erreichen können, innen- wie außenpolitisch. Es reicht nicht, „wenn wir es wollen“.
Wenn Joachim Käppner mit seinem Beitrag zivilgesellschaftliche Verantwortung einfordert, gegen eine Lehnstuhldemokratie, ist das sicher gut gemeint. Aber sein Text ist geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie Werte zur hohlen Phrase verkommen können, wie man sie aus Politikerreden zur Genüge kennt. Als Phrase haben auch die stärksten Werte keine Strahlkraft, nicht nach innen, nicht nach außen, sondern stoßen bei den Putins, Orbans, Erdogans, Modis oder Höckes dieser Welt samt ihrer Gefolgschaft auf Zynismus und Gleichgültigkeit. So wie es auch nicht reicht, als erbauliches Zeichen „unserer Art zu leben“ einen Weihnachtsbaum zu kaufen.
Bert Brechts Satz „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ propagiert keine amoralische Welt, sondern weist darauf hin, dass Moral viel damit zu tun hat, ob Menschen zu essen und ein Dach über dem Kopf haben, und dass sie darauf vertrauen können, dass es in der Politik vor allem auch darum geht.
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