Die Coronakrise ist, was ihre gesellschaftlichen Folgen angeht, ersichtlich noch nicht vorbei. Immer wieder wird eine „echte“ oder gar „ehrliche“ Aufarbeitung gefordert, mal mit mehr, mal mit weniger Sinn.
Jetzt hat die „Aufarbeitungsdebatte“ durch die Protokolle des RKI-Krisenstabs neuen Auftrieb erhalten. Vor einem Jahr (!) hatte das querdenkernahe Portal „Multipolar“ die Protokolle erhalten und nun veröffentlicht. Die Protokolle enthalten datenschutzrechtlich motivierte Schwärzungen, die jetzt noch einmal überprüft werden, danach werden ein paar Namen mehr zu lesen sein.
„Multipolar“ sagt, man habe mit der Veröffentlichung noch auf ein Gerichtsurteil zu einer Klage gegen die Schwärzungen warten wollen, sich aber nun zur Veröffentlichung mit den Schwärzungen entschieden, da der Gerichtstermin erst für Mai angesetzt worden sei. Nun gut, ein Jahr hatte „Multipolar“ Zeit, wirklich kritische Passagen in den Dokumenten zu finden. Herausgekommen ist nichts. Außer das, was man mit der entsprechenden Phantasie an den passenden Stellen hineingeheimnissen kann. Diese Phantasie bringt das Querdenkermilieu natürlich allemal auf. Leider haben auch andere in die gleiche Kerbe geschlagen und Skandale gewittert, vom ZDF bis zu Fakten-Markwort, der in einem Focus-Kommentar raunt, jetzt würde es gefährlich für Lauterbach – wegen dessen manchmal unausgegorenen Äußerungen zum Impfen, als ob Lauterbach und andere Politiker:innen nicht ständig unausgegorene Äußerungen von sich geben würden. Aber gut, wenn’s ins Bild passt, passt es eben.
Inzwischen sprechen sich auch die Ampel-Fraktionen für eine „Aufarbeitung“ aus. Ich hoffe, man hat eine Idee, wie daraus mehr als eine politische Abrechnung mit kleineren Katharsis-Effekten werden kann. 2021 hatte die Gesundheitsministerkonferenz eine Enquete-Kommission angeregt, die die Folgen von Corona für die Kindergesundheit und darauf ausgerichtete Hilfen ins Auge fassen sollte – das wäre sinnvoll gewesen. Gekommen ist diese Enquete-Kommission nicht, dafür werden jetzt wieder „Was-war-falsch-und-wer-war-schuld-Kommissionen“ gefordert, vor allem von denen, die schon immer alles besser wussten.
Vor diesem Hintergrund kann man darüber diskutieren, welche sozialpsychologische Funktion die „RKI-Files“ haben. Zum einen scheint das Freiklagen der Dokumente einen „Da-ist-ein-Skandal-Reflex“ auszulösen: Wenn etwas freigeklagt werden muss, kann es nur daran liegen, dass Skandale verheimlicht werden sollen. Das weiß schließlich jeder Investigativjournalistenpraktikant. Aber vielleicht kommt auch noch etwas anderes dabei zum Ausdruck, der Fehlschluss, dass hinter großen Ereignissen immer große Pläne stecken, hinter jedem großen Unheil ein ebenso großer Bösewicht?
Die „RKI-Files“ sind vielleicht so etwas wie die Verdinglichung des Gefühls, dass es bei einem Jahrhundertereignis wie Corona einfach nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann, mit Fehlern, falschen Erwartungen, Profilierungsneurosen und handfesten Dummheiten ebenso wie mit plausiblen oder wirksamen Maßnahmen und einem Zuwachs an Erkenntnissen, aber letztlich eben banal menschlich. Es muss doch etwas zu entlarven geben, der „große Plan“ kann sich doch nicht einfach in Luft auflösen? Nur durchwachsene Politik, das kann doch nicht alles gewesen sein?
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