Vor gut einem Jahr fand eine der interessantesten Veranstaltungen statt, die ich je erlebt habe: die “Voynich 100” in der Nähe von Rom. Hier ist ein Bericht über dieses Ereignis.
Schon vor der Veranstaltung hatte ich mir vorgenommen, einen Artikel über die Voynich 100 für die Fachzeitschrift Cryptologia zu schreiben. Dieser Beitrag ist in der aktuellen Ausgabe erschienen – ein Jahr Vorlaufszeit muss man bei einer Fachzeitschrift eben einkalkulieren. Leider ist dieser Arikel kostenpflichtig. Wer sich das Geld sparen möchte, kann im folgenden einen anderen Artikel über die Voynich 100 lesen, den ich mit der Hilfe von Prof. Wolfgang Lechner und Mitorganisator Dr. René Zandbergen verfasst habe. Hier ist er:
100 Jahre und kein bisschen entschlüsselt
Das Voynich-Manuskript, ein verschlüsseltes Buch aus dem Mittelalter, gilt als das rätselhafteste Buch der Welt. Im Mai 2012 trafen sich erstmals Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen, um sich über das fast 600 Jahre alte Manuskript auszutauschen. Das wichtigste Ergebnis: Es gibt noch viel zu forschen.
Das handgeschriebene und handgemalte Manuskript faszinierte schon vor 400 Jahren die Gelehrten und Mächtigen. Dies kann man in einigen erhalten gebliebenen Briefen aus dieser Zeit nachlesen. Damals wie heute konnte niemand die seltsamen Schriftzeichen entziffern, in denen das 230-seitige Buch verfasst ist. Genausowenig weiß man, wer das Voynich-Manuskript geschrieben hat, wofür es verwendet werden sollte, was die darin enthaltenen Bilder bedeuten und wo es entstanden ist. Das seltsame Werk ist ein einziges großes Rätsel.
Bekannt ist immerhin, dass sich das Voynich-Manuskript im 17. Jahrhundert in Prag befand und dass es um 1680 in Vergessenheit geriet. 1912 spürte es schließlich der Antiquar Wilfrid Voynich (1865-1930) in der Villa Mondragone, einem damals kirchlich genutzten Landhaus vor den Toren Roms, auf. Er machte es der Öffentlichkeit bekannt. Seitdem haben sich ganze Heerscharen von Forschern mit dem auf Pergament geschriebenen Buch beschäftigt – darunter einige Spitzen-Kryptologen des Zweiten Weltkriegs. Der Erfolg war erstaunlich gering. Bis heute konnte sich niemand einen Reim auf die seltsamen Schriftzeichen machen – es ist noch nicht einmal klar, ob der (verschlüsselte?) Text überhaupt eine Bedeutung hat.
Abbildung 1: Das Voynich-Manuskript (hier eine Nachbildung) ist ein faszinierendes Rätsel der Geschichte. Trotz intensiver Forschung konnte bisher niemand den Inhalt entschlüsseln. Quelle: Schmeh
Es gibt also nach wie vor mehr Fragen als Antworten zum Voynich-Manuskript. Um diese zu diskutieren, trafen sich am 11. und 12. Mai 2012 Voynich-Manuskript-Experten aus aller Welt zu einer Konferenz. Der Ort des Geschehens hätte nicht besser passen können: die Villa Mondragone im römischen Vorort Monte Porzio Catone, wo genau 100 Jahre zuvor mit dem Fund von Wilfrid Voynich die moderne Geschichte des Manuskripts begonnen hatte. Es war die erste Konferenz dieser Art, wenn man von einem deutlich kleineren Voynich-Manuskript-Treffen im Jahr 1976 absieht. Die Zeit war zweifellos reif für eine solche Veranstaltung, denn die Zahl der Voynich-Forscher ist mit Aufkommen des Internets deutlich gestiegen. Da neben ernsthaften Voynich-Experten längst auch Esoteriker und Verschwörungstheoretiker ihre Ergüsse im Internet veröffentlichen, ist es manchmal gar nicht so einfach, Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu unterscheiden. Mittlerweile haben schon über 20 Voynich-Exegeten behauptet, das Manuskript entschlüsselt zu haben – eine Lösung wirkt obskurer als die andere.
Das aktuell wohl wichtigste Ergebnis der seriösen Voynich-Manuskript-Forschung ist eine Radiokarbon-Datierung verbunden mit einer mikroskopischen Betrachtung der Tinte. Der Vortrag des Radiokarbonexperten Greg Hodgins, der diese Untersuchung 2009 zusammen mit dem Mikroskopisten Joe Barabe durchgeführt hat, gehörte dementsprechend zu den Höhepunkten der „Voynich 100“-Konferenz. Das Ergebnis war, dass das verwendete Pergament mit hoher Wahrscheinlichkeit zwischen 1404 und 1438 hergestellt wurde. Die verwendete Tinte enthält ausschließliche Bestandteile, die in dieser Zeit verfügbar waren. Anders als in einigen Presseberichten zu lesen, lässt sich jedoch nicht sagen, ob die Tinte auf das frische Pergament aufgebracht wurde oder ob das Schreibmaterial über längere Zeit ungenutzt blieb. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass das Voynich-Manuskript deutlich später entstanden ist, als die Radiokarbon-Datierung vermuten lässt – beispielsweise im 17. Jahrhundert, als es erstmals belegt ist. Allerdings war Pergament damals teuer und daher sicherlich kein Material, das man typischerweise über Jahrzehnte hinweg ungenutzt liegen ließ.
Abbildung 2: Die Schrift des Voynich-Manuskripts taucht an keiner anderen bekannten Stelle auf. Bisher konnte sich niemand einen Reim auf die seltsamen Zeichen machen. Quelle: Beinecke Library
Wenn das Voynich-Manuskript tatsächlich aus dem frühen 15. Jahrhundert stammt, dann scheiden so ziemlich alle Verdächtigen aus, die in der Voynich-Szene als mögliche Verfasser des Manuskripts gehandelt wurden. Ob das mittelalterliche Genie Roger Bacon, der allseits bekannte Leonardo da Vinci, der englische Gelehrte John Dee, der Alchemist Edward Kelley oder einige andere – sie alle lebten zur falschen Zeit. Es bietet sich also an, neue Hypothesen zu entwickeln. Der italienische Voynich-Manuskript-Experte Claudio Foti stellte bei der „Voynich 100“ eine solche vor. Seiner Meinung nach kommt der Humanist Gianfrancesco Poggio Bracciolini (1380-1459) als Autor infrage, der zur richtigen Zeit lebte und zweifellos das intellektuelle Format für ein Werk wie das Voynich-Manuskript hatte. Man darf gespannt sein, ob zukünftige Forschungen diese Hypothese untermauern.
Etwas mehr als über den Autor weiß man über die Besitzer des Voynich-Manuskripts. Einige Indizien sprechen dafür, dass der deutsche Kaiser Rudolf II. (1552-1612) das Buch besaß. Er residierte in Prag. Der polnische Alchemie-Experte Rafał Prinke referierte bei der „Voynich 100“ über dieses Thema und zeigte, dass es im 17. Jahrhundert noch andere Besitzer gab. So gut wie nichts weiß man dagegen über die Geschichte des Voynich-Manuskripts zwischen der vermuteten Entstehungszeit und Kaiser Rudolf II – dies sind immerhin etwa 150 Jahre. Der Brite Nick Pelling versuchte diese Lücke wenigstens teilweise zu schließen. In seinem „Voynich 100“-Vortrag berichtete er vor allem über seine Forschungen zur ursprünglichen Reihenfolge der Manuskript-Seiten. Es ist offensichtlich, dass die Blätter des Buchs vor der Bindung durcheinander gerieten, und dank Pellings Arbeit wissen wir heute wenigstens in Ansätzen, wie die Reihenfolge ursprünglich ausgesehen haben könnte.
Nicht so außergewöhnlich, wie vielfach angenommen
René Zandbergen zeigte in seinem Vortrag eine Vielzahl von Bildern aus alten Kräuterbüchern, wobei sich zahlreiche Ähnlichkeiten mit dem Voynich-Manuskript zeigten. Dies ist in zweierlei Hinsicht ein wichtiges Ergebnis. Zum einen neigten frühere Voynich-Forscher meist zur Ansicht, das Voynich-Manuskript sei etwas Einzigartiges. Bezüglich der darin abgebildeten Pflanzen ist es das jedoch nicht, wie Zandbergen zeigen konnte, denn die weit über 100 großformatigen botanischen Darstellungen darin könnten auch in einem beliebigen Kräuterbuch der damaligen Zeit gestanden haben. Zum anderen gehört es zu den mysteriösen Eigenschaften des Voynich-Manuskripts, dass sich so gut wie keine darin abgebildete Pflanze identifizieren lässt. Zandbergens Vortrag zeigte jedoch, dass diese Eigenschaft nicht ganz so mysteriös ist wie bisher häufig angenommen, denn auch andere historische Kräuterbücher zeigen nichtidentifizierbare Pflanzen.
Klaus Schmeh berichtete über die statistischen Eigenschaften des Voynich-Manuskript-Texts. Die Statistik ist ein wichtiges Hilfsmittel jedes Codeknackers. Wenn man beispielsweise weiß, dass im Deutschen das E der häufigste Buchstabe ist, gefolgt von N, I und S, dann kann man häufig schon mit einfachem Buchstabenzählen zum Erfolg kommen. Es gibt jedoch – von der Entropieberechnung bis zur Spektralanalyse – noch weit mehr statistische Methoden, mit denen sich oft auch komplexere Verschlüsselungen knacken lassen. Viele dieser Methoden wurden in den letzten Jahrzehnten auch auf das Voynich-Manuskript angewendet – bisher ohne durchschlagenden Erfolg. Schmehs Vortrag zeigte jedoch, dass die statistischen Eigenschaften des Voynich-Texts eine Menge über diesen verraten. So ähnelt der Voynich-Inhalt statistisch gesehen in vielerlei Hinsicht einem gewöhnlichen Text in einer natürlichen Sprache. Da ein gutes Verschlüsselungsverfahren solche Eigenschaften zerstört, ist klar, dass dem Voynich-Text keine (wirksame) Verschlüsselungsmethode zu Grunde liegt.
Abbildung 3: Die Verteilung der Buchstabenhäufigkeiten im Voynich-Manuskript sieht aus wie bei einem gewöhnlichen Text in einer natürlichen Sprache. Bisher hat diese Erkenntnis jedoch nicht viel gebracht. Quelle: Schmeh
Es gibt jedoch auch statistische Ergebnisse, die den Voynich-Text klar von natürlicher Sprache unterscheiden und eher in Richtung einer sinnlosen Buchstabenfolge gehen. Von einigen davon berichtete bei der „Voynich 100“ der Brasilianer Jorge Stolfi – ein Urgestein der Voynich-Forschung. Sein Fazit: „Die Struktur und die statistischen Eigenschaften der Wörter im Voynich-Manuskript wirken ziemlich seltsam und schränken die Theorien, die man zur Entstehung aufstellen kann, deutlich ein.” Klaus Schmeh vermutet, dass die Wahrheit irgendwo zwischen natürlicher Sprache und sinnlosen Buchstabenfolgen liegt – es könnte sich etwa um einen aus sinnvollen Wörtern zusammengewürfelten Unsinnstext oder einen echten Text mit sinnlosen Einfügungen handeln.
Ähnlich sieht das auch der Brite Gordon Rugg. Dieser hat ein Verfahren vorgeschlagen, bei dem man einen (unsinnigen) Text generiert, indem man mit einer Schablone Silben aus einer Tabelle zusammensetzt. Das Ergebnis ähnelt in vielerlei Hinsicht dem Inhalt des Voynich-Manuskripts. Rugg war als Referent zur „Voynich 100“ geladen, musste jedoch aus gesundheitlichen Gründen absagen. Die Forschung in diesem Bereich ist noch längst nicht abgeschlossen – weitere Untersuchungen sind notwendig, bestehende müssen reproduziert werden. Nicht zuletzt müssen die statistischen Eigenschaften des Voynich-Texts mit den Eigenschaften anderer Texte verglichen werden – einschließlich Vergleichen mit Unsinnstexten. Es gibt also noch einiges zu tun.
Wolfgang Lechner präsentierte in seinem Vortrag einige neue Erklärungen von Inhalten des Voynich-Manuskript. So gibt es darin eine aufklappbare Seite, auf der neun kreisförmige Objekte mit vielfältigen Ausschmückungen abgebildet sind. Da auch viele Sterne zu sehen sind, wurde die Abbildung bisher meist als „astronomisch“ bezeichnet. Lechner zeigte jedoch eine andere Erklärung: Die Kreisförmigen Objekte sind möglicherweise Darstellungen eines arabisches Bads (Hamam). Die von Lechner gezeigten Vergleichsbilder lassen entsprechende Ähnlichkeiten erkennen. Außerdem sind im Voynich-Manuskript mehrere Badeszenen zu sehen, bei denen teilweise sogar die gleichen Muster im Hintergrund auftauchen. Auch die vom unbekannten Künstler gewählte Methode der perspektivischen Darstellung unterstützt diese Argumentation – immerhin wurde die moderne Form der Zentralperspektive erst 1410 vom italienischen Baumeister Brunelleschi, dem Architekten des Dom zu Florenz, erstmals veröffentlicht und war zur Entstehungszeit des Voynich-Manuskripts sicherlich nicht allgemein bekannt.
Abbildung 4: Diese aufklappbare Abbildung im Voynich-Manuskript könnte ein arabisches Bad (Hamam) zeigen. Das besagt eine noch recht neue Hypothese von Wolfgang Lechner. Quelle: Beinecke Library
Eine weitere Spur, die Lechner vorstellte: Eines der im Manuskript abgebildeten „Apopthekergefäße“ (so werden sie in der Literatur bezeichnet) ist mit einem Wort unterschrieben, das sich als „Samovar“ lesen lässt. Tatsächlich gibt es Gefäße, die auch bereits zur Entstehungszeit des Manuskripts so genannt wurden. Darüber hinaus vertritt auch Lechner die Hypothese, dass die Pflanzenbilder im Voynich-Manuskript nicht notwendigerweise Fantasieprodukte sind. Nicht nur wegen des Hamam kann sich Lechner einen arabischen Hintergrund zumindest von Teilen des Voynich-Manuskripts vorstellen. Sein Vorschlag: „Suchen wir nach Dokumenten, von denen sich der Verfasser hat inspirieren lassen. Vielleicht können wir dann einige Pflanzen und Bauwerke identifizieren, was einen Ansatzpunkt für die Entzifferung liefern könnte.”
Einige interessante Ideen stellte auch der US-Voynich-Experte Richard SantaColoma vor. Er zeigte, dass einige der „Apothekergefäße“ eine Ähnlichkeit mit frühen optischen Geräten haben. Handelt es sich dabei vielleicht um Mikroskope? Einige andere Abbildungen im Manuskript zeigen seiner Meinung nach Ähnlichkeiten mit Darstellungen in der bereits damals existierenden Fantasy-Literatur. Dies ist ein weiterer Forschungsstrang, in dem es noch einiges zu tun gibt.
Abbildung 5: Die Objekte links werden in der Literatur meist als „Apothekergefäße“ bezeichnet. Es könnte sich jedoch auch um Samovare (ein zur Zubereitung von Tee verwendetes Gefäß) handeln. Oder um frühe Mikroskope. Oder um etwas anderes. Quelle: Beinecke Library
Wenigstens ein paar Zeilen sind entziffert
Immerhin einen kleinen Entschlüsselungserfolg konnte der deutsche Kunsthistoriker Johannes Albus vorstellen. Seine Arbeit bezog sich auf die letzte Seite des Manuskripts, auf der ein paar Notizen aufgebracht sind – allerdings nicht etwa in der unlesbaren Voynich-Schrift, sondern im normalen lateinischen Alphabet. Albus konnte sie entziffern. Heraus kam eine auf Latein verfasste Zubereitungsanweisung, in die Wörter wie „Bocksleber“, „Brei“ und „Geißmilch“ eingestreut sind. Offenbar hat also jemand ein medizinisches Rezept auf die letzte Seite des Manuskripts geschrieben. Es ist jedoch nicht klar, ob diese Zeilen vom Autor stammen oder von einem späteren Besitzer. Die Tatsache, dass zwei Wörter darin in der Voynich Schrift geschrieben wurden (die leider noch nicht übersetzt werden konnten), könnte ein Indiz dafür sein, dass der Text vom Autor stammt. Ob es einen näheren Zusammenhang mit dem unlesbaren Teil des Voynich-Manuskripts gibt, ist nicht sicher. Es wird jedoch schon länger vemutet, dass das letzte Kapitel des Manuskripts ebenfalls Rezepturen beinhaltet.
Sieht man von den Zeilen auf der letzten Seite einmal ab, dann liegt das Entschlüsseln des Voynich-Manuskripts nach wie vor in weiter Ferne. Bisher lässt sich weder die Sprache noch die Verschlüsselungsmethode identifizieren. Kein einziges Wort ist lesbar. Doch gerade das macht die Faszination des Voynich-Manuskripts aus. Die Autoren dieses Artikels beabsichtigen, ein internationales Team zusammenzustellen, das sich des Voynich Manuskripts und seiner Geheimnisse mit wissenschaftlichen Methoden annimmt und Schritt für Schritt einer Lösung näher kommt. Einen Vorgeschmack auf ein solches Projekt gab es am zweiten Konferenztag. An diesem fanden keine Voträge mehr statt, dafür gab es eine offene Diskussion. Die dafür angesetzten drei Stunden vergingen für die meisten Teilnehmer wie im Flug. Zum Abschluss meinte einer von ihnen: „Das Schlimmste wäre, wenn das Manuskript eines Tages entschlüsselt werden würde. Dann würde sich kein Mensch mehr dafür interessieren.“
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