Goethe war gestern. Heutige Dichter versehen ihre Werke mit versteckten Botschaften.

Die Anfangsbuchstaben der 15 Strophen der niederländischen Nationalhymne Het Wilhelmus ergeben zusammen die Worte “Willem van Nazzov”. So etwas bezeichnet man als Akrostichon.

Auch in so manch anderem literarischen Text steht mehr, als man auf den ersten Blick sieht. Die Möglichkeiten sind zahlreich. Neben Akrostichen sind Flipflop-Chiffren eine interessante Variante – bei diesen zählt nur jede zweite Zeile. Die einzige Flipflop-Chiffren-Sammlung der Welt gibt es auf dieser von mir zusammengestellten Seite. In meinem Buch Versteckte Botschaften werden weitere Möglichkeiten des Versteckens von Text in Text beschrieben.

Ein neues Genre der steganografischen Poesie haben nun offensichtlich zwei höchst unterschiedliche Poeten begründet. Einer davon ist 14 Jahre alt und heißt Jordan Nichols. Sein Gedicht mit dem Titel „Our Generation“ hat sein Bruder per Twitter verschickt. Es liest sich wie folgt:

Our-Generation-Nichols
Wie man schnell feststellt, handelt es sich um ein sehr pessimistisches Gedicht mit Aussagen wie „Unsere Generation wird für nichts berühmt sein“. Allerdings ist eine zusätzliche Botschaft in diesem poetischen Werk versteckt. Um diese zu finden, muss man die Zeilen des Gedichts von unten nach oben lesen. Dadurch verkehrt sich die Aussage fast ins Gegenteil.

Fast 150.000 Twitter-Nutzer haben Jordan Nichols‘ Gedicht inzwischen retweeted. „Der Typ wird so viele Mädels abbekommen, das ist unfassbar“, kommentierte ein Twitterer.

Allerdings war Nichols nicht der erste, der in dieser Form dichtete. Das Gedicht „Lost Generation“ von Jonathan Reed folgt demselben Prinzip und hat sogar einen ähnlichen Inhalt. Hier ist es:

Das schönste literarische Werk mit einer versteckten Nachricht ist meiner Meinung nach aber nach wie vor ein anderes. Es handelt sich um die Inschrift eines Grabsteins auf einem Friedhof in Montreal. Sie enthält ein Akrostichon:

Fuckyou-Gravestone

Kommentare (14)

  1. #1 Ralf Bülow
    7. März 2014

    Hier wird erklärt, wo Jonathan Reed die Idee für seine “Lost Generation” fand – siehe das zweite Video (“Truth”): https://bolstablog.wordpress.com/2010/04/10/palindromes/

    • #2 Klaus Schmeh
      7. März 2014

      Interessant. Die Idee ist also schon älter.

  2. #3 Ralf Bülow
    Berlin
    8. März 2014

    Die Dichterin & Kinderbuchautorin Marilyn Singer schrieb 2010 und 2013 zwei Bücher mit Umkehr-Gedichten, “Mirror Mirror” und “Follow Follow”: https://marilynsinger.net/category/books/poetry/ Beide sind auf amazon.de erhältlich.

    • #4 Klaus Schmeh
      8. März 2014

      Interessant. Das scheint ja ein eigenes Lyrik-Genre zu sein.

  3. #5 Ralf Bülow
    8. März 2014
    • #6 Klaus Schmeh
      9. März 2014

      Steganografie hat in China eine lange Tradition, während die Verschlüsselung (auf Grund der dazu ungeeigneten Schrift) kaum eine Rolle gespielt hat. Anscheinend hat dies auch auf die Lyrik abgefärbt.

  4. #7 Klaus Schmeh
    9. März 2014

    Der Leser Ralf Jäger hat mich auf folgenden (nicht ganz ernst gemeinten) Dialog hingewiesen, den man ebenfalls von hinten lesen muss:
    https://www.finanz-forum.de/witze_ecke_d_t8862.html

  5. #8 Karl Gernfink
    Lippstadt
    30. September 2018

    Hi Klaus,
    komisch, aber warum kommentierst Du nicht den unscheinbaren Strich, der durch das R von YOUR verläuft. Ich meine, dass der die Grabschrift auf John Mc Laird noch abrundet. Ciao, Karl

  6. #9 Klaus Schmeh
    30. September 2018

    @Karl Gernfink: Ist dieser Strich Absicht? Was bedeutet er?
    Hier gibt es weitere Fotos:
    https://scienceblogs.de/klausis-krypto-kolumne/2017/10/28/my-steganographic-gravestone-tour-2-the-fuck-you-gravestone-in-montreal/

  7. #10 Karl Gernfink
    7. Oktober 2018

    Hi Klaus, der Strich streicht in diesem Fall nicht nur den Buchstaben R, sondern steht auch als Doppelpunkt. Selbst wenn er dem Zufall entsprungen sein sollte, als steganographisches Beispiel eignet er sich allemal. Ciao, Karl

  8. #11 Klaus Schmeh
    13. Oktober 2018

    @Karl Gernfink: Es hieße dann:
    MISSED BY YOU: FRIENDS
    Wenn sich das jemand ausgedacht hat, war es schlau …

  9. #12 Karl Gernfink
    13. Oktober 2018

    @Klaus Schmeh: Über den Link auf #9 bin ich auf die Information gestoßen, dass John Frau und Freundin diesen Nachruf verpasst haben, mit der Aussage, dass er genauso beschrieben wurde, wie er war. Ich habe mir die dortigen Bilder dann noch einmal näher angeschaut und denke schon, dass die beiden methodisch vorgegangen sind.

  10. #13 Klaus Schmeh
    13. Oktober 2018

    @Karl Gernfink: Heißt das, dass das R tatsächlich absichtlich geteilt ist? Ich bin mir da nicht sicher.

  11. #14 Karl Gernfink
    13. Oktober 2018

    @Klaus Schmeh: Das Geniale an dieser Art von Steganographie besteht darin, dass sich der Urheber immer mit dem Zufall oder höherer Gewalt herausreden kann. In diesem Fall bin ich mir jedoch sicher, dass das R absichtlich geteilt wurde, da dieses Wortspiel ausgezeichnet zum Akrostichon passt, die Satzkonstruktion allein schon darauf hinausläuft und die Grabschrift noch einige andere Sehenswürdigkeiten aufweist.