Mitte des 19. Jahrhunderts erschien in der Times eine Serie von mehreren Dutzend verschlüsselten Anzeigen. Vor 25 Jahren gelang es Codeknackern, die Botschaften zu dechiffrieren. Dabei zeigte sich: Der Inhalt hatte mit einer dramatischen Polarexpedition zu tun, die auch heute noch für Schlagzeilen sorgt.
Verschlüsselte Zeitungsanzeigen gab es im England des 19. Jahrhunderts in großer Zahl. Der Londoner Krypto-Experte Jean Plamer (bürgerlich: Tony Gaffney) listet in seinem Buch The Agony Column Codes & Ciphers über 1.000 davon auf. Meist waren es Verliebte, die sich per Geheim-Annonce gegenseitig Mitteilungen zukommen ließen. Es kam jedoch auch vor, dass Inserenten auf diesem Weg Familienmitglieder oder Geschäftspartner über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden hielten – dies war oft schneller und unkomplizierter als per Post. In den damaligen Zeitungen findet man teilweise ganze Serien verschlüsselter Annoncen, die sich manchmal über Jahre hinziehen.
Eine solche Anzeigenserie geriet in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts ins Blickfeld einiger Historiker. Sie bestand aus fast 50 Anzeigen, die zwischen 1850 und 1855 in regelmäßigen Abständen in der Times geschaltet worden waren. Hier ist ein Beispiel (vom 1.10.1851):
Ungewöhnlich war nicht nur die große Zahl der stets gleich aufgebauten Inserate, sondern auch die Tatsache, dass die Verschlüsselung für die damalige Zeit sehr gut war. Es dauerte mehrere Jahre, bis schließlich gleich zwei versierte Codeknacker unabhängig voneinander Erfolg hatten. Einer davon, der Brite John Rabson, berichtete 1992 in der Fachzeitschrift Cryptologia über seine Vorgehensweise.
Rabson hatte vermutet, dass die Verschlüsselung mit einem Codebuch erstellt worden war. Und in der Tat fand er nach einigem Suchen das richtige: den Universal Code of Signals. Leider habe ich im Internet keine Seiten aus diesem gefunden, dafür ist hier ein Ausschnitt aus einem ähnlichen Code:
Die Verschlüsselung sah vor, die Zahlen des Codes nach einer bestimmten Methode in Buchstabenfolgen zu verwandeln. Rabson durchschaute diesen Trick. Die obige Nachricht entschlüsselte sich dadurch wie folgt:
Nun wurde auch klar, welchen Hintergrund die Nachrichten hatten. Sie alle wurden von einem Verwandten des britischen Seefahrers Richard Collinson (1811-1883) geschrieben. Collinson leitete von 1850 bis 1855 eine Rettungsexpedition in die nordamerikanische Arktis. Dort sollte er den verschollenen Polarforscher Lord John Franklin und dessen Mannschaft suchen, die von einer Forschungsreise zur Erkundung der Nordwest-Passage nicht zurückgekommen war. John Franklins missglückte Expedition schlug damals große Wellen und war in ihrer Wirkung mit dem Untergang der Titanic vergleichbar. Der Wikipedia-Artikel dazu ist äußerst lesenswert. Sehr empfehlen kann ich auch die beiden Folkrock-Songs Mercy Bay von Fairport Convention und Lord Franklin von Pentangle, in denen das Thema musikalisch verarbeitet wird. Übrigens wurde eines der beiden Schiffe von John Franklin erst vor wenigen Wochen gefunden.
Vermutlich waren die verschlüsselten Anzeigen dazu gedacht, Collinson während seiner Reise (die das Schicksal Franklins nicht aufklären konnte und daher ihr wichtigstes Ziel verfehlte) über seine Familie zu informieren. Das Kalkül hierbei war, dass die Times als damals bedeutendste Zeitung der Welt auch an relativ entlegenen Orten zu beziehen war. Im arktischen Packeis dürfte dies zwar nicht der Fall gewesen sein, doch als Collinson mit seiner Mannschaft den Winter 1850/51 in Hong Kong verbrachte, könnte er die Times tatsächlich gelesen haben. Auch auf dem Hin- und Rückweg um Kap Hoorn gab es sicherlich Häfen, in denen es die Times zu kaufen gab. Wie gut diese Kommunikationssystem tatsächlich funktionierte, ist leider nicht überliefert.
Zum Weiterlesen: Ungelöst: Ein verschlüsselter Brief aus dem Jahr 1783
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