US-General Robert E. Lee (1807-1870) verschickte 1864 einen verschlüsselten Brief. 2016 wurde er dechiffriert.
In New York und Umgebung leben viele Leute, die sich in der historischen Kryptologie einen Namen gemacht haben. Der Bekannteste davon ist sicherlich David Kahn, den man als Vater dieser Disziplin bezeichnen kann. Auch Gary Klivans, über dessen Arbeiten im Bereich Gang-Codes ich schon öfters berichtet habe, wohnt in dieser Gegend.
Zu den zahlreichen anderen New Yorker Code-Experten gehört der Informatik-Professor Kent Boklan. Dieser hat in den letzten Jahren zwei verschlüsselte Texte aus dem Sezessionskrieg und außerdem zwei verschlüsselte Tagebücher gelöst – und jeweils einen Artikel in der Cryptologia darüber veröffentlicht.
Nachdem ich schon mehrfach per E-Mail mit Kent Boklan Kontakt hatte, hatte ich im vergangenen März Gelegenheit, ihn persönlich zu treffen. Natürlich hatten wir vieles zu fachsimpeln. Dabei erwähnte er seine nächste kryptohistorische Arbeit: Er hatte einen verschlüsselten Brief von Robert E. Lee (1807-1870) dechiffriert. Lee war ab Januar 1865 der Oberbefehlshaber des Südstaaten-Heeres im US-Sezessionskrieg. Er zählt zu den bekanntesten Persönlichkeiten der US-Geschichte.
Der verschlüsselte Brief
Inzwischen ist Boklans Artikel über den besagten verschlüsselten Brief in der Cryptologia erschienen. Der Brief gehört einem privaten Sammler. Dieser kontaktierte Boklan Anfang 2016 mit der Bitte, das Schreiben zu entschlüsseln. Es handelt sich um eine kurze Mitteilung vom 19. Dezember 1864. Der Sezessionskrieg war zu diesem Zeitpunkt in vollem Gange. Lee war als General (aber noch nicht als Oberbefehlshaber) der Südstaaten aktiv. Empfänger des Briefs war Alexander Lawton, ein weiterer Südstaaten-General.
Die in Großbuchstaben geschriebenen Passagen sind verschlüsselt, dazwischen finden sich Klartext-Passagen.
Wie man heute weiß, nutzten die Südstaaten im Sezessionskrieg das Vigenère-Verfahren, wobei nach aktuellem Stand der Forschung insgesamt nur vier verschiedene Schlüsselwörter zum Einsatz kamen: MANCHESTERBLUFF, COMPLETEVICTORY, COMERETRIBUTION und BALTIMORE.
Wie Kent Boklan die Verschlüsselung knackte
Boklan hätte nun diese vier Schlüssel ausprobieren können, doch er wählte einen anderen Ansatz. Er betrachtete die folgende Textstelle:
at 9 a.m. IZQHVMWY.
Er fragte sich: Was könnte hinter der Uhrzeit (9 Uhr) stehen? Von der Länge her kamen beispielsweise TUESDAY und SATURDAY infrage. Diese Wörter führten jedoch zu keinen plausiblen Vigenère-Schlüsseln.
Als nächstes probierte Boklan das Wort TOMORROW, das ebenfalls die passende Länge hatte. Und tatsächlich, dieses Mal ergab sich als Schlüssel-Bestandteil PLETEVIC.
Damit war klar: Lee hatte das in der Forschung längst bekannte Schlüsselwort COMPLETEVICTORY verwendet. Boklan ermittelte damit folgenden Klartext:
A BRIGAD of TWO THOUSAND MEN FOR WILMINGTON ordered TO DANVILLE DEPOT at 9 am TOMORROW. Notify LONGSTREET at what hours TRANSPORTATION FOR THREE STEERS of same SIZE will be READY
Boklans Arbeit bestätigte wieder einmal: Die Verschlüsselungsverfahren des US-Sezessionskriegs waren nicht die besten. Das Vigenère-Verfahren war bereits damals lösbar, und obendrein wechselte man den Schlüssel viel zu selten.
Es sollte noch ein paar Jahrzehnte dauern, bevor die USA in den zwanziger Jahren schließlich zur weltweif führenden Kryptografie-Nation wurde, die sie heute noch ist.
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Zum Weiterlesen: Top-25 der ungelösten Verschlüsselungen – Platz 8: Der Ticketschalter-Räuber von Ohio
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