Mit viel öffentlichem Tamtam, garniert mit allerhand Unterstellungen und Verschwörungstheorien, sind vor einem Vierteljahr die Protokolle des RKI-Krisenstabs freigegeben worden. Erst viel geschwärzt, dann weniger geschwärzt. Wirklich aufregende Erkenntnisse haben sich daraus bisher nicht ergeben, abgesehen davon, dass sich deutsche Behörden nach wie vor schwer tun, über den Schatten des althergebrachten „Arkanprinzips“ der Verwaltung zu springen.
Jetzt hat die (bisher zumindest) skandallose Story eine pikante Fortsetzung. Im RKI verletzt jemand seine Pflichten zur Verschwiegenheit und hat weiteres Material ungeschwärzt an eine Journalistin gegeben, an Aya Velázquez, Redaktionsmitglied des Querdenkerblatts „Demokratischer Widerstand“. In der Berliner Zeitung wird die Person als “Whistleblower” deklariert.
Whistleblower sollen durch das „Hinweisgeberschutzgesetz“ vor Nachteilen geschützt werden. Das Gesetz ist vor einem Jahr in Kraft getreten. Allerdings ist es kein Freibrief, nach eigenem Gutdünken Interna an die Presse zu geben. Der Schutz ist an bestimmte Voraussetzungen gebunden, z.B. dass die Hinweise Rechtsverstöße betreffen und an die zuständen Meldestellen gehen. Die Details mögen ggf. mitlesende Jurist:innen erläutern.
Die Berliner Zeitung zitiert Aya Velazquez mit dieser Bewertung des Sachverhalts:
„Wir sollten uns daran erinnern, dass in vermeintlich gesichtslosen Behörden auch Menschen sitzen: Menschen, die sich, ebenso wie wir, ihre Gedanken machen, und für uns alle eine bessere Zukunft wollen: Frei von Totalitarismus, politischer Bevormundung und der systematischen Verletzung körperlicher Selbstbestimmungsrechte. Dieser Geist – unsere Verbundenheit als Bürger untereinander – ist uncancelbar. Die Mächtigen wissen das. Es ist das, wovor sie am meisten Angst haben. Die Achillesferse des aktuellen politischen Systems sind wir Menschen, denn jeder einzelne von uns hat Macht.“
Der Sound der Querdenker ist unüberhörbar. „Totalitarismus“? Ernsthaft? Aber dass in Behörden Menschen sitzen, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Sie diskutieren sogar untereinander und sind gewiss nicht immer einer Meinung mit der politischen Leitung. Die meisten von ihnen arbeiten auch ganz selbstverständlich an einer „besseren Zukunft“, nicht zuletzt die Mitarbeiter:innen im RKI. Und in der Tat sind wir Menschen die „Achillesferse des aktuellen politischen Systems“, vor allem die, die aus Frust und Verzweiflung politischen Rattenfängern folgen, statt sich in vernünftiger Weise für eine bessere Zukunft einzusetzen. Demokratie braucht Demokraten, keine Systemsprenger.
Ich kann die Unzufriedenheit mit der zögerlichen Freigabe behördlicher Unterlagen gut verstehen, aber ob man dem Rechtsstaat einen Gefallen tut, wenn man das Recht in die eigene Hand nimmt? Le droit, c’est moi? Oder ist das Zivilcourage? Vergleichbar mit den Klimaprotesten? Legitimer, wenngleich illegaler ziviler Ungehorsam? War es im konkreten Fall gerechtfertigt oder nicht?
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