Corona hat die Gesellschaft erschüttert und zu Recht wird viel darüber diskutiert, was gut und was weniger gut lief und wie man die verschiedenen Bereiche, von der Forschung bis zu den rechtlichen Instrumentarien, besser auf solche Krisen vorbereiten könnte. Es gibt dazu eine Menge wissenschaftlicher Studien über Nutzen und Risiken der Infektionsschutzmaßnahmen, es gibt Evaluationsberichte von Gremien wie dem Sachverständigenausschuss nach § 5 (9) IfSG oder dem Bundesrechnungshof, mit zum Teil scharfer Kritik an einzelnen Maßnahmen, und es gibt tausende von Gerichtsentscheiden zu Corona, die Maßnahmen als rechtmäßig oder als nicht rechtmäßig einstufen.
Über dieses Handwerk der Aufarbeitung hinaus gibt es ein pandemiepolitisches „Unbehagen in der Kultur“, ein diffuses Bedürfnis nach einem therapeutischen Setting, das die Gesellschaft heilen soll, oder eine Art letztes Gericht, das ein endgültiges Urteil über die Coronapolitik sprechen soll. Es ist vermutlich ein Reflex auf den zu kurz gekommenen demokratischen Diskurs in Zeiten, die für alle herausfordernd waren, für viele existentiell.
Dieses Bedürfnis ist nachvollziehbar, es wird allerdings zuweilen auch politisch ausgebeutet, von Vertretern der etablierten wie der sich neu etablierenden Parteien ebenso wie von der Querdenkerei. Ein Spannungsverhältnis gibt es nicht nur zwischen Politik und Wissenschaft, wie es gerade im Zusammenhang mit den RKI-Protokollen wieder einmal diskutiert wird, sondern auch im Verhältnis zwischen Politik und Aufarbeitung.
Die politischen Aufarbeitungsforderungen, einschließlich der quergedachten, lauten manchmal ganz ähnlich wie bei vielen kritischen Wissenschaftlern: „Man müsse aus dem, was geschehen ist, lernen“. Dem ist kaum zu widersprechen. Es ist aber zunächst eine recht nichtssagende Phrase und daher will ich ihr ein paar klärende Rückfragen, sozusagen zur Metaebene des Aufarbeitens, mit auf den Weg geben:
1. Wer ist das Subjekt des „Lernens“? Gehören die, die das fordern, auch dazu oder wissen die schon alles?
2. Was sind die leitenden Fragestellungen einer Aufarbeitung jenseits dessen, was Wissenschaft, Gremien und Gerichte jetzt schon tun?
3. Geht es nur darum, was nicht gut lief oder auch darum, was gut lief? Lernen heißt ja nicht nur, aus Fehlern zu lernen.
4. Warum enden politische Aufarbeitungsforderungen, selbst aus Regierungsfraktionen, so oft mit der Forderung nach „persönlichen Konsequenzen“ im Establishment von Politik und Behörden? Ist damit das „Lernen“ erledigt?
5. Welche Aufarbeitungsfragen sind in welchem Format richtig untergebracht? Kann ein Bürgerrat eine wissenschaftliche Evaluation der Effekte von Lockdowns zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Pandemie ersetzen, ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss ein Gerichtsverfahren? Welches Format wäre geeignet, um das Verhältnis zwischen Vorsorgeprinzip und Evidenzbasierung näher zu bestimmen, z.B. kriteriengeleitet, welches Format, um Schlussfolgerungen für das geplante BIPAM zu formulieren, welches, um die wissenschaftliche Politikberatung allgemein oder in Krisen zu verbessern, welches, um Vorschläge für den Ausbau der Forschungsinfrastruktur zu machen, oder zum Umgang mit Fake News?
6. Wenn das Krisenmanagement künftig noch stärker wissenschaftlich bestimmt werden soll, wie immer das aussehen mag, und weniger macht- oder parteipolitisch, kann dann zugleich demokratischer entschieden werden?
7. Heißt für die Zukunft lernen auch, dass wir alle lernen müssen, mehr Unsicherheit auszuhalten, auch von der Politik nicht immer sofort endgültige Antworten zu erwarten?
8. Gehört auch der Kapitalismus zu den Themen der Aufarbeitung?
9. Sollen in einer Art politischem Encounter wirklich alle eingebunden werden, beispielsweise auch die AfD? Auch Leute, die ihr Geschäft im Verbreiten von Fake News und Verschwörungstheorien sehen? Auch früher mal seriöse, aber dann weit abgedriftete Kritiker? Bekommen Kinder qua Betroffenheit ein Mitspracherecht? Bewohner von Pflegeheimen?
10. Wer regelt die Regeln? Wer die Aufarbeitungsfragen, wer die Formate? Was ist, wenn das gewählte Verfahren nicht funktioniert? Gibt es Abbruchkriterien?
Das sind alles schwierige Fragen, die selbst einer sorgfältigen „Aufarbeitung“ bedürften. Vielleicht läuft es daher darauf hinaus, dass eine Aufarbeitung jenseits der handwerklichen Aspekte weniger ein „Lernen“ als ein Ritual wird. Dann wäre ich für ein ausgelassenes Fest zum Abschluss, mit Frei-Bier für alle.
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