Die Süddeutsche Zeitung berichtet über ein verschlüsseltes Tagebuch, deren Autorin unter anderem die Nazis am Mitlesen hindern wollte. Experten sagen: Der Artikel geht an der Wahrheit vorbei.

“Tante Annas Geheimnis” lautet der Titel eines Artikels, der gestern in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung erschienen ist. Darin geht es um Tagebücher, die eine Frau aus einem bayerischen Dorf in der Zeit zwischen 1926 und 2002 geschrieben hat – insgesamt etwa 25.000 Seiten. Aus Furcht vor den Nationalsozialisten habe die Tagebuchschreiberin eine besonders ausgefallene Kurzschrift verwendet, so heißt es im Artikel. Auf Grund dieser Verschlüsselung seien die täglichen Aufzeichnungen heute nur schwer zu entziffern – eine umfangreiche Codeknacker-Arbeit erscheint daher unvermeidlich. Die Blogleser Thomas Glück und Helmut Winkler haben mich dankenswerterweise auf diesen Artikel aufmerksam gemacht.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass man eine alte Kurzschrift heute nicht mehr ohne Weiteres lesen kann. Es gab früher unzählige unterschiedliche Kurzschriften, die teilweise nur eine geringe Verbreitung fanden. Viele Autoren nutzten eine Kurzschrift daher nicht nur, um schneller schreiben zu können, sondern auch, um sich vor ungebetenen Mitlesern zu schützen. Auf meiner Encrypted Book List finden sich mehrere Tagebücher, die in einer (meist veränderten) Kurzschrift verfasst wurden. Beispielsweise schützte der Brite Samuel Pepys seine Aufzeichnungen auf diese Weise (für besonders vertrauliche Stellen verwendete er zusätzlich fremdsprachliche Ausdrücke, um den Leser zu verwirren). Auch Pepys’ Landsmann Quintin Hogg Lord Hailsham, der US-Amerikaner William Byrd und andere führten Kurzschrifttagebücher, die für Außenstehende schwer bis gar nicht lesbar waren.

Auch andere Kurzschrift-Dokumente erwiesen sich als Fälle für Codeknacker. Erst vor wenigen Wochen tauchte beispielsweise in Chicago ein stenografierter Text auf, für dessen Entzifferung eine Belohnung von 1.000 Dollar ausgesetzt wurde.

Ein Kurzschrift-Tagebuch von einer Frau, die die Nazis als Mitrleser fürchtete, wäre daher durchaus denkbar – und obendrein eine schöne Geschichte. Kein Wunder, dass die Süddeutsche darüber berichtete.

Als ich den Artikel las, kontaktierte ich die Forschungsstätte für Kurzschrift in Bayreuth, die mir freundlicherweise umgehend antwortete. Die Berichterstattung der Süddeutschen sehen die Kurzschrift-Experten der Forschungsstätte offensichtlich kritisch. Das von der Tagebuch-Autorin verwendete Stenografie-System ist nämlich nach deren Aussage alles andere als ausgefallen und selten. Es handle sich schlicht und ergreifend um die Deutsche Einheitskurzschrift (DEK), die seit 1924 in Deutschland und Österreich die einzige amtlich zugelassene ihrer Art ist. Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von Leuten beherrschen diese Art des Stenografierens. Von einer Geheimschrift zum Schutz gegen die Nazis kann also keine Rede sein. “Den Text kann man einfach so runterlesen”, heißt es in der Antwort der Forschungsstätte, zumal die Autorin durchaus ordentlich schrieb.

So ist das vermeintliche Krypto-Rätsel am Ende wohl nur heiße Luft. Interessant sind die Inhalte des Tagebuchs sicherlich trotzdem.

Kommentare (12)

  1. #1 DasKleineTeilchen
    17. Juni 2014
  2. #2 Friedrich Lehmkühler
    Wertheim am Main
    17. Juni 2014

    Mein Opa hat fünf dicke Kladden mit seinem Kurzschrifttagebuch des Ersten Weltkriegs hinterlassen, den er in Frankreich und Belgien vor allem als Stoßtruppführer erlebte. Leider handelt es sich um die Gabelsberger-Stenographie, die heute fast niemand mehr lesen kann. Deshalb war für mich die Bayreuther Webadresse, die ich noch nicht kannte, sehr interessant. Vielen Dank dafür!

    • #3 Klaus Schmeh
      17. Juni 2014

      Gern geschehen. Viel Erfolg beim “Entschlüsseln” der Kurzschrift.

  3. #4 HansB
    17. Juni 2014

    Tagebücher in der Deutschen Einheitskurzschrift waren vor 100 Jahren weit verbreitet, was sollte man denn sonst auch tun am Abend ohne sich von modernen Medien berieseln zu lassen. Auch mein Grossvater hat uns ein dickes buch hinterlassen.
    Schlecht oder gar nicht recherchiert , dafür aber umso reisserischer (Nazi-Bezug gibt da immer etwas her) ist bei der Süddeutschen Zeitung inzwischen State of the Art .
    Bei naturwissenschaftlichen Themen wird deshalb auch in der Regel kritiklos und recherchelos bei Greenpeace abgeschrieben. Billigjournalismus ist eben kurzfristig gut für das wirtschaftliche Ergebnis und für das dumme Konsumentenvolk reichts allemal..

  4. #5 dino
    17. Juni 2014

    Hallo Herr Schmeh,
    nachdem ich den Text entschlüsselt habe, stellte ich fest, dass es sich um eine Abbildung von Wikipedia handelt und nicht um einen Orginalauszug aus dem Tagebuch. Schade auch!
    Hier die Lösung.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Stenographie

    • #6 Klaus Schmeh
      21. Juni 2014

      Tut mir Leid, das war nicht beabsichtigt. Ich habe den Wikipedia-Text verwendet, um ein Beispiel zu zeigen. Einen Ausschnit aus dem Originaltagebuch hätte ich aus dem SDZ-Artikel nehmen können, aber das wäre vom Urheberrecht her kritisch gewesen.

  5. #7 roel
    *****
    18. Juni 2014

    @dino guck auch hier https://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1953112/25.000-Tagebuchseiten-in-Steno-Schrift#/beitrag/video/1953112/25.000-Tagebuchseiten-in-Steno-Schrift da werden einige Passagen eingeblendet. Ein vom ZDF kontaktierter Experte würde für eine komplette Entzifferung der 25000 Seiten ca. 9 Jahre benötigen.

    • #8 Klaus Schmeh
      21. Juni 2014

      Danke für den Hinweis. Neun Jahre kommt mir etwas lang vor für einen Text, den man einfach so lesen kann.

  6. #9 Peter
    22. Juni 2014

    Habe mir jetzt die Lehrbücher für Steno organisiert.
    Meiner Mutter zufolge, musste man Steno vor 60 Jahren als Kaufmann neben Schreibmaschine noch lernen. Sozusagen als Vorläufer vom Diktiergerät.
    Auf jeden Fall, hatte sie noch alle Lehrbücher.

    • #10 Klaus Schmeh
      22. Juni 2014

      >musste man Steno vor 60 Jahren als Kaufmann neben Schreibmaschine noch lernen
      Noch in meiner Jugend (80er-Jahre) gab es Altersgenoss(inn)en von mir, die Steno lernten. Wenn man beispielsweise Sekretärin werden wollte, war das Standard.

  7. #11 D.Schmidt
    Dresden
    23. Juni 2014

    @HansB: Nun ja – mit der DEK wusste vor 100 Jahren keiner etwas anzufangen; die Beschlüsse dazu gab es erst 10 Jahre später – im Jahre 1924. 😉
    Wer sich allerdings in diese Materie weiter einarbeiten möchte, der wird auf den Seiten von Dr. Lege fündig: https://www.drlege.de/Willkommen.html
    (Einfach “Steno” auswählen, das entsprechende Bild anklicken und das Lehrbuch herunterladen.

    Zugegeben, die DEK ist mit einen gewissen Lernaufwand verbunden – deshalb hier 2 “Alternativen”, die innerhalb weniger Stunden erlernbar sind:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Friedrich_Scheithauer
    Der Download für die Selbstlernfibel befindet sich unter “Weblinks”.

    Version 2: https://de.wikipedia.org/wiki/Stiefografie
    Auch hier eine Anleitung zum Üben:
    https://digital.slub-dresden.de/fileadmin…613489.pdf

    … und nun viel Spaß beim Erlernen der “kryptographischen Krakel” 😀

  8. #12 D.Schmidt
    Dresden
    23. Juni 2014