Im Jahr 1924 starben die Briten George Mallory und Andrew Irvine beim Versuch, als erste den Mount Everest zu besteigen. Ein verschlüsseltes Telegramm meldete das Drama in ihre Heimat.

Wer bestieg als erster den Mount Everest? Die Experten sind sich weitgehend einig, dass dies im Jahr 1953 dem Neuseeländer Edmund Hillary zusammen mit dem Sherpa Tenzing Norgay gelang.

Vor allem in Großbritannien sehen jedoch einige die Briten George Mallory und Andrew Irvine als die Erstbezwinger des höchsten Bergs der Welt. Die beiden kamen 1924 von einem Besteigungsversuch nicht mehr zurück. Theoretisch ist es möglich, dass Mallory und Irvine erst auf dem Rückweg vom Gipfel verunglückten. Nicht nur Everest-Veteranen wie Reinhold Messner oder Hans Kammerlander halten es jedoch für unmöglich, dass die beiden Briten mit der damaligen Ausrüstung bei nichtoptimalen Wetterbedingungen auf der von ihnen gewählten Route tatsächlich bis auf 8848 Meter aufstiegen.

Everest

Die Diskussionen um George Mallory (er war der deutlich bessere Bergsteiger der beiden, weshalb der Besteigungsversuch meist mit seinem Namen verknüpft wird) habe ich in den letzten Jahren immer verfolgt. Dies lag sicherlich auch daran, dass mir Mallorys Nachname ins Auge sprang. “Mallory” heißt in der Kryptografie der fiktive Bösewicht, der alles abhört und versucht, Verschlüsselungen zu knacken. Sein Name ist allerdings von “mal” (“schlecht”) abgeleitet und hat mit dem gleichnamigen Bergsteiger nichts zu tun.

Neben der zufälligen Namensgleichheit gibt es noch einen anderen Grund, warum George Mallory in der Kryptografie präsent ist. Auf die Frage, warum er den Everest besteigen wolle, antwortete er einst: “Because it is there” (“Weil es ihn gibt”). Eine ähnliche Antwort geben Krypto-Historiker auf die immer wieder gestellte Frage, warum man versucht, das Voynich-Manuskript und andere alte Kryptogramme zu entschlüsseln.

Der Blog-Leser Alexander hat mich nun dankenswerterweise darauf hingewiesen, dass es einen deutlich direkteren Bezug zwischen George Mallory und der Kryptografie gibt. Kurz nach dem Scheitern der Besteigung schickte nämlich ein Mitglied der Expedition ein Schreiben aus dem Basislager nach Großbritannien. Dieses wurde zunächst von einem Boten in die Stadt Pagri gebracht. Von dort ging es am 19. Juni 1924 per Telegramm nach London.

Everest-Telegram

Der Text lautet: MALLORY IRVINE NOVE REMAINDER ALCEDO.

Das Telegramm enthält zwei Codewörter: NOVE und ALCEDO. Es war damals durchaus üblich, Telegramme zu verschlüsseln, indem man wichtige Wörter durch Codewörter ersetzte. Es gab zu deisem Zweck Codebücher mit Zehntausenden von Einträgen.

Leider ist das in diesem Fall verwendete Codebuch nicht bekannt. Der Empfänger hat jedoch die Bedeutung der beiden Codewörter mit Bleistift dazugeschrieben. NOVE heißt demnach “killed in last engagement”, während ALCEDO für “arrived all in good order” steht. Damit bestätigt sich : Codebücher wurden nicht nur zum Verschlüsseln, sondern auch zum Verkürzen von Telegrammen eingesetzt (je kürzer ein Telegramm, desto billiger). In vielen Fällen war das Verkürzen sogar der eigentliche Grund, ein Codebuch zu nutzen.

Entschlüsselt lautet das Telegramm: MALLORY IRVINE KILLED IN LAST ENGAGEMENT, REMAINDER ARRIVED ALL IN GOOD ORDER. Auf Deutsch etwa: “Mallory und Irvine sind beim letzten Vorhaben ums Leben gekommen, alle anderen sind heil angekommen.”

Die Bedeutung des Worts OBFERRAS, das über der eigentlichen Nachricht steht, ist mir leider nicht bekannt. Vielleicht weiß ein Leser mehr.

Dieses Mallory-Telegramm ist zweifellos eines der schönsten Beispiele für einen Text, der mit einem Codebuch verschlüsselt wurde. Seltsamerweise wird es in keinem mir bekannten Krypto-Buch erwähnt. Um so schöner, dass mich der Leser Alexander darauf hingewiesen hat.

Zum Weiterlesen: Die verschlüsselten Nachrichten eines Polarforschers

Kommentare (8)

  1. #1 Robert
    26. September 2015

    Die beiden Codewörter “NOVE” und “ALCEDO” mit der gegebenen Bedeutung habe ich hier:
    https://archive.org/details/unicodeuniversa00unkngoog
    gefunden.

    • #2 Klaus Schmeh
      26. September 2015

      Danke für den Hinweis. Hätte nicht gedacht, dass man den Code im Internet findet. Es ging wohl tatsächlich weniger um Geheimhaltung als um Verkürzung.

  2. #3 Robert
    26. September 2015

    “OBFERRAS” könnte für eine Telegrammkurzanschrift im damaligen London stehen.

  3. #4 le D
    28. September 2015

    @3: oder der Alpine Club.

    Klaus, sagt Dir der Name Jochen Hemmleb was? Bevor ich (wahrscheinlich sinnlos) Bücher wälze: wenn es jemand weiß, dann er (oder er weiß jemanden, der es wissen könnte), denn es gibt kaum jemanden, der die Historie der damaligen Besteigungen besser kennt als er.

    • #5 Klaus Schmeh
      28. September 2015

      Ja, Hemmleb ist wohl der führende Experte für die Mallory-Expedition. Vieleicht weiß der noch etwas mehr über diese Geschichte.

  4. #6 Bernhard Gruber
    29. September 2015

    “OB” von “OBFERRAS” könnte die damalige Niederlassung der Eastern Telegraph Company Ltd. in der Old Broad Street 18 in London sein. Dann macht allerdings der Zwischenraum zwischen OBF und ERRAS auf dem Telegramm wenig Sinn.
    https://atlantic-cable.com//CableCos/CandW/Eastern/EasternReverseOfFform.JPG

  5. #7 BreitSide
    Beim Deich
    29. September 2015

    Verschlüsseln zum Verkürzen? Das passt ja zu den Fernschreiber-Kürzeln, die für die SMS “wieder auferstanden” waren. (PLS send ASAP…). Wobei das ja nur Verkürzungen sind, die man auch ohne Codebuch versteht.

    Zur Verkürzung gibt´s ja noch den schönen alten jüdischen Witz:

    Blau: Schreiben Sie dem Grün: “Angebot angekommen. Hochachtungsvoll Blau”.
    Funker: “Das ‘Hochachtungsvoll’ können Sie sich sparen.”.
    Blau: “Wieso, woher kennen Sie den Grün?”.

  6. #8 BreitSide
    29. September 2015

    Abo… 😉