Auf meine Leser konnte ich mich wieder einmal verlassen. Vor vier Tagen habe ich ein mysteriöses verschlüsseltes Buch vorgestellt, heute kann ich die Lösung präsentieren.
Es begann am 26. Dezember 2015. Das Christkind hatte gerade seine Heimreise angetreten, als ich eine E-Mail von einem Walter C. Newman aus Virginia erhielt. Herr Newman berichtete von einem verschlüsselten Buch, das er auf einem Flohmarkt im Shenandoahtal (Virginia) erworben hatte. Das Krypto-Museum der NSA hatte ihn auf mich verwiesen.
Schon bevor ich die Buch-Scans gesehen hatte, hatte ich einen Verdacht. Wenn irgendwo ein verschlüsseltes Buch auftaucht, über dessen Hintergrund nichts bekannt ist, handelt es sich meist um eine Memorierhilfe der Freimaurer (oder einer ähnlichen Organisation). Bei den Freimaurern spielen zahlreiche Rituale eine Rolle, die früher meist geheimgehalten wurden. Solche Rituale wurden oft in Büchern festgehalten, wobei viele Wörter stark gekürzt oder durch Symbole ersetzt wurden. Hier ist ein Beispiel:
Auf meiner Encrypted Book List finden sich zahlreiche weitere Bücher dieser Art (00018, 00040, 00049, 00051, 00053, 00054, 00058, 00067, 00068, 00069, 00070). Vermutlich gibt es noch viel mehr.
Die Kürzungen und Ersetzungen in den Ritual-Beschreibungen sollten zum einen verhindern, dass Unbefugte die Bücher lasen. So gesehen geht es hier um eine Art der Verschlüsselung. Andererseits ist eine eindeutige Entschlüsselung meist nicht möglich, da durch die Kürzungen Informationen verloren gehen. Es handelt sich daher nicht um eine Verschlüsselung im üblichen Sinne.
Eine Memorierhilfe, die für einiges Rätselraten gesorgt hat, bevor meine Leser schließlich die Lösung fanden, ist das Action-Line-Kryptogramm. Es stand auf Platz 24 in meiner Liste der ungelösten Krypto-Rätsel.
Das Lane-Manuskript
Als ich mir die Scans von Walter C. Newmans Flohmarkt-Fund ansah, sah ich meinen Verdacht zunächst einmal nicht bestätigt. Der Text sah völlig anders aus als eine Freimaurer-Memorierhilfe (hier gibt es das gesamte Buch als Download). Ich tippte eher auf eine Art Tagebuch. Ich nannte das Buch “Lane-Manuskript”.
Das Alter des Lane-Manuskripts lässt sich eingrenzen. Die im Buch auf einem Stempel erwähnte Firma E. J. Lane existierte von etwa 1840 bis 1880. Die ebenfalls erwähnte Zeitung New York Tribune gab es unter diesem Namen zwischen 1841 und 1924. Blog-Leser Ralf Bülow fand einen weiteren Hinweis: Der Satz “The curculio fly will be attracted” aus dem Zeitungsausschnitt führt via Google zu zwei Zeitungen, die im Mai 1892 erschienen. Das Buch muss also danach entstanden sein. Insgesamt würde ich auf eine Entstehungszeit zwischen 1892 und 1900 tippen.
Auch die Herkunft des Buchs liegt nicht völlig im Dunkeln. Das Unternehmen E. J. Lane hatte seinen Sitz in New Hampshire. Aufgetaucht ist das Buch auf einem Flohmarkt in Virginia. Sofern das Lane-Manuskript keine großen Umwege genommen hat, stammt es aus dem Nordosten der USA.
Am 5. Januar veröffentlichte ich einen Artikel über das Lane-Manuskript auf Klausis Krypto Kolumne.
Des Rätsels Lösung: wie Schuppen von den Augen
Nach Veröffentlichung des Artikels gingen schnell einige Kommentare ein. Der Leser flohansen schrieb:
Einführungsritual für Niedriggrad-Freimaurer. Der “entered apprentice” ist der Neuling, die Sitzungen der Loge werden als “work” bezeichnet. Im Beispielbild: Dialog zwischen SD= Senior Deacon und JD= Junior Deacon Hi= He is etc.
Nun fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das Lane-Manuskript sah eben doch aus wie eine Freimaurer-Memorierhilfe. Der einzige Unterschied: Alle mir bisher bekannten Freimaurer-Memorierhilfen sind gedruckt. Das Lane-Manuskript ist dagegen von Hand geschrieben.
Der Leser Norbert Biermann fand sogar eine Freimaurer-Web-Seite, auf der eine halbwegs zum Lane-Manuskript passende Ritual-Beschreibung aufgeführt ist. Er schrieb folgendes:
Schaut mal hier:
https://www.phoenixmasonry.org/degreesoffreemasonry/Entered_Apprentice_Examination.htm
Die dort beschriebenen Frage-Antwort-Spielchen beim [Freimaurer-]Aufnahmeritual lassen sich, großenteils wortwörtlich, auf unser Kryptogramm anwenden. Die meisten Worte werden durch ihren ersten Buchstaben (manchmal mehrere) abgekürzt, plus einige spezielle Abkürzungen, wie + für “and” und das Rechteck für “lodge”/Loge (das hatten wir schon beim Augusti-Kryptogramm). Nehmen wir Seite 3b, ab der zweiten Zeile (“W c y a E A”)
Whence came you, (“a” unklar) entered apprentice?
From a lodge of the Holy Saints John of Jerusalem.
What came you here to do?
To learn to subcue my passions and and improve myself in Masonry.
I presume that (or then) you are a Mason?
I am so taken and accepted among Brethren an Fellows.
What makes you a Mason?
My obligation.
How do you know yourself to be a Mason?
By having been (“o” unklar) tried, never denied, and am ready to be tried again.
Der Leser Freemason wies auf eine weitere Seite dieser Art hin.
Damit war das Rätsel gelöst. Das Lane-Manuskript ist also eine handschriftliche Freimaurer-Memorierhilfe. Der Inhalt besteht aus Ritualbeschreibungen. Die von Norbert Biermann aufgeführten Textpassagen geben einen Eindruck vom Klartext. Norbert Biermann hat dankenswerterweise sogar die erste Seite übersetzt.
Warum von Hand?
Bleibt noch die Frage, warum das Lane-Manuskript von Hand geschrieben ist. Ich sehe drei mögliche Erklärungen:
- Das Lane-Manuskript wurde von einem gedruckten Buch abgeschrieben. Bevor es Fotokopierer gab, war dies oft die einzige Möglichkeit, einen Text zu kopieren.
- Das Lane-Manuskript war als Vorlage für ein gedrucktes Buch gedacht.
- Das Lane-Manuskript wurde von Hand geschrieben, weil keine Druckmaschine zur Verfügung stand.
Insgesamt bin ich wieder einmal beeindruckt, wie schnell meine Leser das Rätsel gelöst haben. Vielen Dank daher (auch im Namen von Walter C. Newman) an Ralf Bülow, Norbert Biermann, flohansen und alle anderen Kommentatoren. So macht das Bloggen Spaß.
Follow @KlausSchmeh
Zum Weiterlesen: Cylob-Manuskript: Ein ungelöstes Rätsel
Kommentare (8)