Die Schlüsseltabelle sieht wie folgt aus:
Der Verfasser hat in die Verschlüsselung eine zusätzliche Schikane eingebaut. Im Französischen gibt es einige sehr häufige kurze Wörter, die normalerweise bei monoalphabetischer Substitution schnell identifiziert werden können. Davon tauchen im Klartext einige auf: “les”, “des”, “de”, “se”, “le”, “la”, “à”. Ein erster Verschlüsselungsschritt sah vor, all diese Wörter, die normalerweise direkt vor einem Bezugswort stehen, stattdessen hinter ihr Bezugswort zu schreiben, und zwar (fast) immer ohne Wortzwischenraum. Also wurde z.B. die Überschrift “les concessions des soviets” umgewandelt in “concessionsles sovietsdes” und anschließend nach der Substitionstabelle chiffriert. In Biermanns Transkription sind diese Fälle durch ein Sternchen markiert. Um bei der Überschrift zu bleiben: ABCDCCEBF*GDF CHIEDJF*KDF wird im Klartext zu “concessions*les soviets*des” und kann dann korrekt umgestellt werden zu “les concession des soviets”.
Auf Deutsch lautet der Klartext etwa:
Die Konzessionen der Sowjets
_______
Eine Rede von Lenin, in der er einen Vorschlag unterbreitet
_______
Wir haben die weltweite Bourgeoisie besiegt,
denn sie ist unfähig, sich zu vereinen um
sich zu verteidigen. Die Verträge von Versailles und
von Brest-Litowsk haben sie gespalten.
Ein erbitterter Kampf zeigt sich,
von Tag zu Tag stärker, zwischen Amerika
und Japan: Wir profitieren davon, und
wir bieten Kamtschatka zur Pacht an, anstatt
es gratis zu vergeben; ruft euch im Übri-
gen ins Gedächtnis, dass Japan uns ein großes,
weites Territorium im Fernen Osten weggenommen hat.
Was hat das mit einem Tresorknacker zu tun?
Nun fragt man sich natürlich: Was haben die “Konzessionen der Sowjets” mit einem Tresorknacker zu tun? Nachdem Norbert Biermann den Text mit einer französischen Kollegin durchgegangen war, kam er zu folgender Antwort: nichts! Der Text ist vielmehr eine komprimierte Rede Lenins.
Doch warum verschlüsselte damals jemand eine Lenin-Rede? War es ein französischer Agent, der die Rede für so bedeutsam hielt, dass er sie chiffriert nach Frankreich übermittelte? Oder handelt es sich einfach nur um einen Text, der an einer französischen Polizeischule zur Schulung von Codeknackern verwendet wurde?
Interessant ist auch eine andere Frage: Warum präsentierte Harry Ashton-Wolfe die verschlüsselte Lenin-Rede als die Nachricht eines Tresorknackers? Darauf hat Norbert Biermann eine mögliche Antwort gefunden. Von Ashton-Wolfes gibt es ein Buch namens “The Forgotten Clue” (1929). Biermann stellte fest, dass Ashton-Wolfe mit seinem Artikel in den Illustrated London News 1928 ebendieses Buch vorbereitet hatte. Es gibt in diesem Buch passenderweise ein Kapitel mit der Überschrift “Secret Writing and Invisible Inks” inklusive zweier Abbildungen, die beide auch im Artikel zu finden sind. Das hier betrachtete Kryptogramm wird jedoch im Buchkapitel nicht erwähnt. Dafür wird ein einfaches deutsches Geheimalphabet mit folgender Unterschrift vorgestellt: “The secret alphabet found on a member of a dangerous gang of German safebreakers.” Vermutlich hat Ashton-Wolfe die Sache mit dem Tresorknacker (“safebreaker”) vom Geheimalphabet auf die verschlüsselte Lenin-Rede überntragen – aus Versehen oder absichtlich.
Insgesamt bin ich absolut begeistert von Norbert Biermanns Recherche- und Codeknacker-Arbeit und bin stolz, diese spannenden Ergebnisse auf meinem Blog präsentieren zu können. Darüber hinaus kann ich nur sagen: Herzlichen Dank!
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Zum Weiterlesen: Gelöst: Der verschlüsselte Drohbrief an US-Präsident Roosevelt
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