Bei der Entführung der Grundschülerin Nina von Gallwitz im Jahr 1981 spielte Verschlüsselung eine wichtige Rolle. Fünf Jahre nach meinem ersten Blog-Artikel zu diesem Thema kann ich heute neue Informationen dazu präsentieren.

English version (translated with DeepL)

Am 18. Dezember 1981 wurde die achtjährige Nina von Gallwitz auf dem Weg zur Schule im Kölner Stadtteil Hahnwald entführt.

Mehrere Lösegeld-Übergaben scheiterten. Die Täter erhöhten ihre Forderung im Verlauf der Entführung mehrfach, am Ende waren es 1,5 Millionen Mark. Die Polizei kam nicht weiter, viele hielten die Entführte sogar für tot.

Bevor ich zum Thema Gallwitz-Entführung zurückkomme, möchte ich erwähnen, dass Elonka Dunin, Co-Autorin meines aktuellen Buchs, vor Kurzem einen TED-Talk zum Thema Kryptologie gehalten hat. Es gibt ihn nun auf Youtube:

 

Die Gallwitz-Entführung

Zurück zur Entführung der Nina von Gallwitz im Jahr 1981. Nachdem mehrere Lösegeld-Übergaben gescheitert waren, schaltete die Familie des Opfers den Journalisten Franz Tartarotti ein, der zuvor bei der Kronzucker-Entführung erfolgreich vermittelt hatte. Außerdem engagierten sie den einstigen Kriminaldirektor des BKA, Hans Fernstädt.

Die Entführer akzeptierten die beiden neuen Verhandlungspartner. Sie ließen ihnen Nachrichten zukommen, Tartarotti und Fernstädt antworteten darauf über verschlüsselte Zeitungsanzeigen. Das verwendete Verschlüsselungsverfahren wurde in der Presse als „Fünf-Zeilen-Caesar“ bezeichnet.

Tatsächlich gelang es den beiden Unterhändlern, das Vertrauen der Entführer zu gewinnen und eine erfolgreiche Lösegeld-Übergabe zu organisieren. Am 15. Mai 1982 kam Nina von Gallwitz nach 149 Tagen in Gefangenschaft frei.

Den Tätern – möglicherweise handelte es sich um ein Ehepaar – gelang offenbar das perfekte Verbrechen. Die Polizei konnte sie nie ermitteln. Auch das Geld blieb größtenteils verschwunden. Inzwischen ist die Tat verjährt, und die Polizei hat die Akten vernichtet. Meines Wissens ist der Fall von Gallwitz die einzige erfolgreiche Entführung mit Lösegeld-Erpressung in der deutschen Kriminalgeschichte.

Interessant finde ich unter anderem, dass das Haus, in dem das Mädchen gefangen gehalten wurde, nie ausfindig gemacht werden konnte. Dabei konnte das Opfer später einige Besonderheiten (unter anderem ein Anbau und ein ungewöhnliches Fenster) an diesem Gebäude beschreiben.

Da die Entführer bei den versuchten Lösegeld-Übergaben Funkgeräte für die Kommunikation mit den Eltern bzw. deren Helfer nutzten, kann man vermuten, dass mindestens einer davon Funkamateur war – ein Hobby, das auch unter Cipherbrain-Lesern weit verbreitet ist. Wenn man von einem Täter-Ehepaar ausgeht, dürfte eher der Mann der Funkspezialist gewesen sein, da Frauen in diesen Kreisen deutlich seltener anzutreffen sind.

Ich gehe stark davon aus, dass die Polizei ausführlich in der Funkamateurszene ermittelt und dort nach einem passenden Ehepaar aus der fraglichen Region gesucht hat. Immerhin kannten die Ermittler zahlreiche Details aus dem Haus, in dem die Täter vermutlich wohnten. Es hätte außerdem auffallen können, dass das fragliche Paar in den fünf Monaten der Entführung keine Besucher empfangen wollte oder beispielsweise eine geplante Reise verschob. Doch anscheinend verliefen diese Ermittlungen im Sande.

Wer mehr zur Gallwitz-Entführung wissen will, findet hier einen Überblick und hier ein Interview mit Tartarotti und Fernstädt.

Außerdem gab es auf ZDF Info kürzlich eine sehr interessante Dokumentation zu diesem Fall. Darin heißt es unter anderem, dass die Täter möglicherweise einen Informanten im direkten Umfeld der Eltern hatten, der sie darüber unterrichtete, ob und wie die Polizei an den jeweiligen Lösegeld-Übergabe-Versuchen beteiligt war.

Während ich die Behauptung mit dem Informanten durchaus nachvollziehen kann, finde ich eine andere Angabe aus der Dokumentation ziemlich kurios: Das eigentliche Motiv der Täter, so erfährt man, sei nicht etwa das Lösegeld gewesen. Stattdessen sei es darum gegangen, sich an der Familie des Opfers zu rächen. Mir würden allerdings einige Rachemethoden einfallen, die deutlich weniger riskant und weniger aufwendig sind.

 

Die verschlüsselten Botschaften

Leider sagen die diversen Quellen zur Gallwitz-Entführung so gut wie nichts über die kryptografischen Details aus. Insbesondere war mir ursprünglich nicht klar, was ein “Fünf-Zeilen-Caesar” sein soll (in der Literatur kommt ein Verfahren dieses Namens nirgends vor).

Doch dann meldete sich der Blog-Leser Rolf Thelen bei mir. Er stellte sich als Pensionär vor, der früher beruflich mit Kryptologie zu tun hatte. Irgendwann im Jahr 1982 zeigte ihm ein Kollege einen Ausschnitt mit einem offenbar verschlüsselten Text aus der Tageszeitung “Die Welt”.

Gallwitz-Welt

Quelle/Source: Die Welt

Heute ist klar, dass es sich um eine (die erste?) Nachricht der beiden Vermittler an die Gallwitz-Entführer handelte. Thelen gelang es, die Anzeige zu entschlüsseln. Darüber bloggte ich 2016. Hier ist die vollständige Nachricht:

11513 21513 33724 42306 53916 61017 71525 83010 92030 01038 13022
21223 32822 40817 53424 61015 72027 82433 92423 01935 12908 22641
33510 42427 525;42 62407 71336 62316 91729 03828 10930 21724
32818 41210 53622 61412 72843 82410 92420 01028 13423 22537 32312
41113 53825 62230 72614 83316 91710 02728 01408 22631 32415 42632
51928 63423 71039 83624 92127 02327 11313 21910:
1) 11417 22119 32536 41816 53325 62808 72224 82406 92126 02441
12409 22337 32314 40513 53422 62417 72111 84029 91024 02719 12812
21322 32415 43121 51021 62018 71139 82815 91613 02933 10630 22310
33329 40720 52219 61118 71125 83310 92030 01037 12809 22319 32828
40822 52424 61015 72014 83916 91614 02328 11524 22639 32806 41917
51120 62322 71223 82010 91126 04234 11914 21714 33820 41809 52334
61821 72332 82606 91813 01337 11716 21027 31629 42213 53423 60635
72110 82320 92214 03850 12112 21334 33105 41917 51120 62723 70826
81928 91929 03840 10330 21708 32720 40507 52215 62317 72225 84023
91730 01028 12906 20636 31923 41723 52539 61019
2) 12032 21323 33931 41606 53817 62212 72839 82022 91417 02321
12016 21740 32314 42127 52924 60317 72626 84120 92225 03615 13008
22239 34116 42424 52128 62719 72533 82517 92415 02824 12026 23323
32636 42411 53932 62518 72020
3) 11533 22417 32238 40914 52137 61412 71143 82410 91535 01028
– 12713 21036 32830 41520 52342 60621 71308 82735
4) 10733 23014 32733 40907 52332 61406 71634 84015 91915 01027
12917 21432 32810 40616 52133 61933 71824 83916 92225 02119 11717
22129 33307 42433 51234 61723 70639 81614 92117 02327 12032 21714
32618 42511 53928 61516 71734 82110 93117 02338 13509 22336 32930
42313 53435 62226 72325 84220 91819 02332 13016 21935 33115 41324
52434 61709 71227 82823 90410 02631 11017 21910 33324 41223 52332
62718 72940 82404 92517 01425 13618 21131 32323 41709 52327 60226
73026 82515
5) 91721 02420 13934 20512 33932 42424 52825 63222 73131 81432
93618 01633 12829 22123 33231 41333 51825 63716 72518 83719 91817
00922 13816 22433 32530 43018 52536 62921 71513: 83228 91521
01719 13220 20716 32328 41708 51733- 63016 73621 81238 93813
01938 11927 21709 32327 41527 53009 62429 70614 83221 91417-
01724 13821 21721 31933 41607 51337 63513 70822 84137 90233 02519
12820 20810 33627 41417 51229 62617 72714 81724 92907 00919 11732
21227 32327 40626 51317 63120 72324 81935 91108 02620
6) 10733 23024 32818 41210 53622 61412 72827 82015 91535 01422
12324 21425 33329 40426 54034 60926 71716 83429 92423 03326 12118
22135 32613 42115 51333 63622 72733 83228 92422 03924 12133 21410
33722 40507 52335 62222 72934 83806 93216 00633 12909 21938 31814
40619 52533 62226 72520 82627 91308 02633 12904 22640 34007 42433
51233 61607 71337 83523 92213 04021 11921 22612 33921 41626 52533
61806 71625 83709 91721 02532 12416 21438 31514 42129 53634 61320
72119 83920 92226 03233 11708 22620
7) 10913 21410 34120 42225 53615 63008 72226 84019 91917 01728
12911 21032 33523 41222 52130 60626 72610 83318 92517 02332 12308
22222 32821 43217 51724 61709 71937 81714 91211 02824 11530 21708
32735 40710 52734 61810 73035 83702 92332 01434 12904

Zur Lösung der Verschlüsselung stand Rolf Thelen 1982 noch kein Computer zur Verfügung. Er musste daher das Ermitteln der Buchstabenhäufigkeiten, die Suche nach Parallelstellen und andere Dinge von Hand erledigen. Seine Arbeit war dennoch erfolgreich.

Das Verschlüsselungsverfahren, das in der Presse als ”Fünf-Zeilen-Caesar” bezeichnet wurde, ist eigentlich eine (leicht abgewandelte) Vigenère-Chiffre. Es wurde der Schlüssel ALLES ODER NICHTS verwendet. Zum Entschlüsseln muss man zunächst aus jeder Fünfergruppe die erste Zahl streichen (sie hat keine Bedeutung). Die verbleibenden vier Zahlen werden jeweils als zwei Paare betrachtet. Der eigentliche Geheimtext beginnt daher mit den Zahlen 15 13 15 13 37 24. Der Schlüssel ALLES ODER NICHTS wird davon abgezogen (es gilt A=01, B=02, C=03 usw.):

Geheimtext:             15 13 15 13 37 24 ...
Schlüssel:              01 12 12 05 19 15 ...
Entschlüsselter Text:   14 01 03 08 18 09 ...
In Buchstaben:           N  A  C  H  R  I ...

Insgesamt ergab sich folgender Text (Originalangaben sind gelb unterlegt, der Unterstrich steht für ein Leerzeichen, einen Teil der enthaltenen Telefonnummer habe ich geschwärzt):

Gallwitz-Klartext-2

Quelle/Source: Rolf Thelen

Wie man sieht, wurden keine Umlaute verwendet, sondern jeweils der entsprechende Vokal (z.B. FUNF). Statt dem Z wird jeweils das C geschrieben. Anders als hier dargestellt, sind im Originaltext keine Wortzwischenräume enthalten.

Obwohl der Entführungsfall bereits vorüber war, übergab Rolf Thelen den entzifferten Text der Polizei. Im Text sind Informationen (insbesondere eine Telefonnummer) enthalten, von denen er nicht wusste, ob diese den Ermittlern bekannt waren.

Außer dieser Nachricht gab es noch weitere, die die Unterhändler per Zeitungsanzeige an die Entführer schickten. Diese lagen mir zunächst nicht vor. Als weiterer Schlüssel wurde ENDE GUT ALLES GUT eingesetzt.

 

Weitere verschlüsselte Botschaften

Als ich mir kürzlich die besagte Doku auf ZDF Info anschaute, stellte ich zu meiner großen Freude fest, dass darin einige verschlüsselte Nachrichten gezeigt wurden, die ich noch nicht kannte (ab etwa 32:00). Hier ist beispielsweise eine weitere Zeitungsanzeige (das Datum ist nicht zu erkennen):

Quelle/Source: ZDF Info

Kann ein Leser diese Anzeige dechiffrieren?

Auf dem folgenden Screenshot ist eine weitere Nachricht zu sehen. Anscheinend wurde sie am 8. April 1982 veröffentlicht. Es handelt sich um das vierte Inserat:

Quelle/Source: ZDF Info

Kann es ein Leser lösen?

Das fünfte Inserat steht darunter (das Datum könnte der 30. April 1982 sein):

Quelle/Source: ZDF Info

Leider ist diese Nachricht nur schlecht zu lesen. Kann ein Leser dennoch etwas erkennen?

Und hier ist schließlich noch ein Zettel, auf dem einer der Geheimtexte entschlüsselt wurde:

Quelle/Source: ZDF Info

Der Schlüssel ist ALLES ODER NICHTS.

Wer eine der heute neu vorgestellten Botschaften dechiffrieren kann, möge sich melden. Natürlich bin ich auch an weiteren Informationen zu diesem Fall interessiert. Alle Anzeigen müssten sich noch finden lassen. Über entsprechende Hinweise würde ich mich freuen.


Further reading: Four cryptograms from a 1926 crime story series

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Kommentare (8)

  1. #1 Max Baertl
    22. Juli 2021

    Erste Ziffer jedes Blocks ist nur Blender, Schlüssel: ENDE GUT ALLES GUT
    Klartexte:
    1) ?
    2) MIR NICHT MOEGLICH
    3) OK
    4) OK
    5) MIR TN (Telefonnummer) BEKANNT

  2. #2 Max Baertl
    22. Juli 2021

    6) NEUE PC EDE NOETIG 50

  3. #3 Max Baertl
    22. Juli 2021

    Ich vermute es handelt sich bei den Nachrichten 1) bis 6) um Antworten auf Forderungen bzw. Anweisungen der Entführer

  4. #4 Max Baertl
    22. Juli 2021

    Die Anzeige vom 8.4.1982

    Beginnt mit:
    (erste 4 Zeichen leider nicht lesbar) … RICHTSICHT RANGEKOMMEN…

    Schlüssel: ALLES ODER NICHTS

    Vielleicht will sich jemand die Mühe machen noch den Restlichen Text zu entschlüsseln.

  5. #5 Michael
    29. Juli 2021

    Nachricht sauber angekommen. Codesatz verstanden. Danke. Ergänzend zu Nachricht an Sie vom 25. März folgendes:

    Musste viele Befragungen durchführen ohne Pol und ohne Presse – Ergebnis:

    Anruf KETCE [=???] 17:24. [E]r aufgeregt. Er vergisst Anweisung. Ruft Pol an. Kriegt Weisung. Wiederholt CR [=???] (140).

    Reicht Kripo PATER[=Vater?]. Hub keine Startgenehmigung vom Tower. Fliegt u 17:51 ohne ab. Fliegt nach Pol Funkanweisung Route bis Wiesb[aden]. Kreuz KM[=???] PATER glaubt Kontakt. Hub verlangsamt. MONCHH[=Mönchhof] Dreieck Schleife ein Min. Zurück Wiesb vier Min. Zwei Schleifen vier Min. FFM[=Frankfurt/Main] Kreuz sieben Min. Schleife ein Min. Wiesb sieben Min. Zwei Schleifen vier Min. Nach Flughafen FFM fünfzehn Min.

    Pilot sagt viell[eicht] sie Hub Funk empfangen, aber Hub nicht Sie? Weil: Viell Bodenstation zu schwach? Frequenz durch Hub Flughöhe, Tageszeit zu belastet. Funkschatten. Dann nur durch starkes wiederholen des Signal[s] überbrückbar (Morse Lautstärke nicht empfan HBA[=gen???]

  6. #6 Klaus Schmeh
    29. Juli 2021

    @Michael: Danke, damit wäre dieses Rätsel gelöst.

  7. #7 M.Ellguth
    3. August 2021

    Wenn es den Entführern um Rache ging, dann dürfte die Entführer Angst und Schmerz erlebt haben und sie wollten, dass die Eltern genau das Gleiche empfinden, was sie irgendwann empfunden haben. Der Herr von Gallwitz war Prokurist einer Bank. Bankangestellte werden dafür verantwortlich gemacht, wenn ein Kredit gekündigt wird, ein Haus gepfändet, ein Konto gepfändet,…. Das kann tragische Konsequenzen haben, bis zum erweiterten Suizid.

    Solche Fenster, wie bei Wiki zu sehen, habe ich schon mehrfach in alten, leerstehenden Fabrikverwaltungsgebäuden gesehen. Dabei kann man die geteilten Fenster separat öffnen, ohne das gesamte Fenster öffnen zu müssen. Auch die Aufteilung der Räumlichkeiten, mit der Zwischentür, könnte für ein Verwaltungsgebäude sprechen, ggf. mit Anbau oder Veränderungen der Deckenhöhen.

    Einen möglichen Informanten, aus dem Familienkreis, dürfte nicht so schwer zu ermitteln sein, da die Familie sicher nur wenige Personen mit Informationen versorgt hat.
    Die Asservate sollen ja noch vorhanden sein (laut Dokumentation) und sowas wird dann meist auch irgendwann ans Landesarchiv abgegeben, da es sich um Belege der Zeitgeschichte handelt.

  8. #8 ExStudent
    Cologne
    6. November 2021

    Wenn bekannt ist, in welchen Zeitungen die Anzeigen erschienen, sollten diese mit einem Arbeitsaufwand von abzählbaren Stunden im Original auftreibbar sein. Der Zeitraum der Anzeigen ist doch begrenzt.
    Aus Erfahrung und halbwegs verlässlichen Angaben weiss ich, dass min. Universitätsbibliotheken auch große Tageszeitungen sammeln und diese teils im Original, teils auf Mikrofilm und neuzeitlich wohl ganz digital vorhalten – teils zurück bis zur Gründung. Insofern müßte nur irgendwer bspw. in der Kölner Uni-Bib die in Frage koimmenden Wochen/Monate der Welt ua. Zeitungen durchsehen.