Der britische Enigma-Experte Mark Baldwin versucht momentan, eine seit langem bekannte Frage zu klären: Verkauften die Briten nach dem Zweiten Weltkrieg unsichere Verschlüsselungsmaschinen an ahnungslose Kunden?

English version (translated with DeepL)

Nach dem Zweiten Weltkrieg verkauften oder verschenkten die Briten Enigmas an ehemalige Kolonien und andere Länder, die daran interessiert waren. Diese Geschichte hat wohl jeder schon einmal gehört, der sich etwas ausführlicher mit der Enigma beschäftigt. Das Perfide daran: Da die Briten die Enigma längst geknackt hatten, konnten sie die Funksprüche ihrer Kunden dechiffrieren.

Quelle/Source: Pixabay

 

Unsichere Maschinen im Angebot?

Während des Krieges waren den Briten meines Wissens etwa 170 Enigma-Exemplare in die Hände gefallen, und vermutlich kamen nach Kriegsende weitere dazu. Da insgesamt etwa 30.000 Enigmas gebaut wurden, überrascht diese hohe Zahl nicht. Die britische Regierung hatte in jedem Fall genügend Maschinen zur Verfügung, um sie nach Afrika oder Nahost zu verscherbeln.

Einige Dinge haben mich an dieser Geschichte allerdings immer irritiert:

  • In Museen, bei Sammlern und in Auktionsangeboten ist mir nahezu noch nie eine Enigma aufgefallen, die aus Afrika, dem nahen Osten oder Südamerika stammt (auf zwei Ausnahmen werde ich weiter unten eingehen). Dabei werden heute für Enigmas aberwitzige Preise bezahlt. Hat man in den betreffenden Ländern sämtliche Enigmas entsorgt, bevor sie wertvoll wurden?
  • Ich kenne keine Literaturquelle, die näher auf dieses Thema eingeht. In welche Länder haben die Briten Enigmas verkauft? Um welche Enigma-Varianten handelte es sich? Wo genau und bis wann wurden die Maschinen genutzt. Keine dieser Fragen lässt sich bisher beantworten.
  • Mir ist nicht klar, wie die Briten nach dem Krieg das Knacken einer Enigma-Nachricht bewerkstelligt haben sollen. Schließlich ließ Winston Churchill bei Kriegsende alle Knackmaschinen (Turing-Bomben) demontieren und alle Unterlagen vernichten – so wird jedenfalls berichtet. Ohne diese Maschinen und das schriftlich festgehaltene Know-how dürfte es den Briten schwergefallen sein, Enigma-Funksprüche zu dechiffrieren. Haben die Briten vielleicht doch einige Turing-Bomben behalten?

 

Mark Baldwins Blog-Artikel

Am vergangenen Sonntag habe ich zusammen mit Elonka Dunin einen Online-Vortrag über die Experimente von Robert Thouless gehalten. Die Enigma spielte dabei zwar keine Rolle, doch nach der Präsentation gab es, wie immer, eine offene Diskussion zu beliebigen Themen. Dabei wies der britische Enigma-Experte Mark Baldwin auf einen Artikel hin, den er kürzlich auf seinem Blog “Dr. Enigma” veröffentlicht hat.

Besonders interessant in diesem Artikel fand ich zunächst einmal, dass die Enigma anscheinend noch in den Fünfziger-Jahren kommerziell angeboten wurde. Hier ist eine Werbeanzeige aus den USA:

Quelle/Source: Baldwin

Der folgende Ausschnitt stammt aus einem deutschen Katalog des Anbieters Steeg:

Quelle/Source: Steeg

Leider konnte ich nicht herausfinden, was es mit dem “Steeg-Katalog” auf sich hat. Gab es einen Versandhandel dieses Namens? Vielleicht weiß ein Leser mehr dazu.

 

Nur eine Legende?

Das eigentliche Thema von Marks Artikel war jedoch die besagte Behauptung, die Briten hätten die Enigma an ahnungslose Kunden in Drittwelt- und sonstigen Ländern verkauft. Mark zählt einige Literaturquellen auf, die davon berichten. Allerdings hat auch er Zweifel, denn es finden sich nirgends Belege dafür.

Mark fragte daher am Sonntag in die Runde, ob jemand mehr zu diesem Thema weiß. Ich antwortete, dass 30 Enigmas nach dem Krieg in Israel gelandet sind. Nach einem Hinweis von Blog-Leser George Lasry habe ich 2015 darüber gebloggt. Mark kannte diese Geschichte bereits. Ein anderer Teilnehmer erzählte außerdem dass der US-Sammler Glen Miranker eine Enigma aus Argentinien besitzt. Dies sind jedoch die beiden einzigen Fälle, die diesbezüglich bekannt sind. Auch im Publikum des Vortrags, in dem sich viele Enigma-Experten befanden, konnte niemand weitere Informationen beisteuern.

Ist die Sache mit den Enigmas, die die Briten nach dem Zweiten Weltkrieg verkauft haben sollen, also nur eine Legende? Oder gibt es doch  Belege für weitere Fälle? Falls ein Leser mehr weiß, würde ich mich über einen Kommentar freuen.


Further reading: „Enigma“ zählt erstmals zu den zehn beliebtesten Mädchennamen in Deutschland

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Kommentare (4)

  1. #1 Joseph Kuhn
    10. März 2022

    … dann wäre die Sache mit der Crypto AG vielleicht nur die industrielle Fortsetzung der britischen Idee?

    https://www.sueddeutsche.de/digital/crypto-spionage-bnd-cia-1.4794872

  2. #3 Max Baertl
    10. März 2022

    Anscheinend wurde die Enigma in der DDR noch bis in die 50er Jahre von der Volkspolizei und Kasernierten Volkspolizei (später NVA) verwendet.

    Quelle: http://scz.bplaced.net/ „DDR und Enigma“

  3. #4 gedankenknick
    10. März 2022

    Also für mich sind alle aufgezählten Fakten für sich genommen schlüssig mit Logik nachzuvollziehen:

    1) Die Briten haben veröffentlicht, alle “Turing-Bomben” und dazugehörige Unterlagen vernichtet zu haben. Würde ich als Geheimdienst ganz genauso machen, und die Geräte/Unterlagen selber dann einlagern und/oder weiterbetreiben. Gerade im Hinblick auf Punkt 2.

    2) Die nicht mehr benötigten (und außerdem “knackbaren) Enigma aus Beutebeständen wurden an Drittstaaten verkauft. Hört sich für mich völlig logisch an, man kann sogar die selben Verkaufsargumente verwenden, die vor dem Krieg benutzt wurden, denn…

    3) Die Käufer haben die Geräte guten Gewissens gekauft, weil…
    3a) sie nichts von der Decodierbarkeit (und damit Unsicherheit) der Geräte wußten.
    3b) die Geräte zur Verschlüsselung von Nachrichten “kurzer Halbwertszeit” eingesetzt wurden. Manche nachrichten müssen nur von heute bis morgen (oder Tag X) verschlüsselt bleiben, weil sich die verschlüsselte Nachricht nach dem Tag X nicht mehr relevant ist oder sich gar selbst entschlüsselt/offenbart hat. (Beispiel: Kaufe alle XY-Aktien am Tag X zur Uhrzeit Y!) Für solche Nachrichten muss man keinen Verschlüsselungs-Overkill einsetzen, sondern man muss die Verschlüsselung nur “gerade schwer genug” machen.

    4) Es gibt keine Literaturquellen über die (Ver)Käufe. Gerade wenn Geheimdienste verwickelt waren, insbesondere wenn Gegenspionage-Spiele gespielt wurden, hat man natürlich tunlichst darauf geachtet, keine nachvollziehbaren Spuren zu hinterlassen. Dies gilt auch für die Käufer – aus reinem Selbstschutz, sollte sich viel später offenbaren, dass man beim Kauf über den Tisch gezogen wurde.

    5) Es gibt keine alten Geräte in Mussen / bei Auktionen. Wenn ein Geheimdienst wirklich etwas auf sich hält, dann werden solche Geräte mit Ausmusterung aus dem “aktiven Gebrauch” anschließend vernichtet. Dies dient schlicht und ergreifend dem (auch zukünftigem) Schutz bisher verschlüsselter Nachrichten. [Aus dem selben Grund sind die genauen Patroillenrouten diverser U-Boote immer noch geheim – auch wenn diese Boote seit Jahrzehnten ausgemustert und abgewrackt sind – damit man nicht nachträglich sicher(!) die Schraubengeräusche zuordnen kann und hierbei durch Ausschlussverfahren neue zusätzliche Erkenntnisse gewinnt.] Da ich unterstelle, dass GB die Geräte hauptsächlich an “befreundete” oder (so einfach knackbar) über nachrichtendienstliche “Umwege” insbesondere an “feindliche” Geheimdienste/Regierungen verkauft hat, und nicht an Privatpersonen/Privatfirmen, wäre ein solche umfassende Vernichtung der Technik durchaus logisch nachvollziehbar. (Auch aus reinem Selbstschutz, um alle Spuren, die auf einen selbst zurückführen, zu vernichten.)

    Ich habe weder Belege noch Widerlegungen für die Verkäufe durch die Briten, aber es würde mich nicht weiter wundern.

    Und ganz ehrlich, hätten der BND und der CIA zusammen die CryptoAG rechtzeitig “abgewickelt” (Tarnstorry: Der Inhaber hat genug vom Geschäft, und es findet sich kein geeigneter vertrauenswürdiger Nachfolger. Die Patente und Unterlagen wurden nach [geheim] verkauft und sind weg…) und hätten nicht versucht, das ganze bis zum St.-Nimmerleins-Tag auszuwalzen, wäre das bis heute nicht ans Licht der Öffentlichkeit gedrungen. Typischer Fall von Gier frisst Hirn für mich.