Eine Bloggerin aus Florida sucht nach der Lösung einer verschlüsselten Postkarte aus dem Jahr 1910. Kann ein Leser ihr helfen?

English version (translated with DeepL)

Google sei Dank bin ich in den Tiefen des Internets mal wieder auf eine interessante verschlüsselte Postkarte gestoßen. Und siehe da, sie stammt mal wieder aus dem US-Bundesstaat Ohio. Dort scheinen die Bedingungen für das Verschlüsseln besonders günstig zu sein – unter anderem konnte ich in den letzten Jahren schon über die verschlüsselte Nachricht eines Räubers, einen verschlüsselten Grabstein, eine verschlüsselte Botschaft aus einem Gefängnis und mehrere verschlüsselte Postkarten aus Ohio berichten. Irgendwann muss ich mal nach Ohio reisen. Vermutlich findet man die Kryptogramme dort sogar im Straßengraben.

Bevor es weitergeht, möchte ich noch ein bisschen Werbung in eigener Sache machen. Momentan arbeite ich mit Elonka Dunin zusammen an der US-Ausgabe unserers gemeinsamen Buchs “Codebreaking: A Practical Guide”. Dieses ist bisher nur bei einem britischen Verlag erschienen. Die US-Ausgabe wird sich davon in ein paar Punkten unterscheiden. Wir werden einige Fehler korrigieren und ein paar Stellen aktualisieren. Insbesondere werden wir die Lösung des zweiten Zodiac-Killer-Kryptogramms durch Jarl Van Eycke, Dave Oranchak und Sam Blake aufnehmen. Wer möchte, kann das Buch bereits jetzt mit Rabatt bei Barnes & Noble vorbestellen.

 

Die Postkarte aus dem Jahr 1910

Zurück zur besagten Postkarte. Diese wird auf dem Blog der US-Bibliotheksexpertin Alea Henle aus Miami beschrieben. Dem Nachnamen nach hat diese Dame Vorfahren aus Schwaben, was zweifellos ein Qualitätsmerkmal ist. Der fragliche Artikel hat die Überschrift “A Musical Mystery? Crack an old Postcard Code” und ist Ende 2020 erschienen. Bisher wurde kein Kommentar dazu veröffentlicht, was wohl bedeutet, dass noch niemand die Lösung gefunden hat.

Auf der Bildseite sind ein paar Noten abgebildet:

Quelle/Source: Henle

Ein Lied mit der Textstelle “Thy voice is near me in my dreams” konnte ich bei einer Internetsuche nicht finden. Gleiches gilt für die Überschrift “Though shadows fall or sunlight beams”. Die Melodie in D-Moll sagt mir nichts. Außerdem stimmt mit dem Takt etwas nicht. Wenn man davon ausgeht, dass die letzte Note punktiert ist und dass nach der zweiten Note ein Taktstrich fehlt, könnte das Lied im Dreiverteltakt stehen. Vielleicht kann ein Leser mehr dazu sagen.

 

Das Kryptogramm

Schauen wir uns die Textseite an. Die Empfängerin war – wie fast immer bei einer verschlüsselten Postkarte – eine unverheiratete Frau (Miss). Sie hieß Flossie Husted und wohnte in der Harris Station Road in einer nicht genannten Stadt. Vermutlich handelte es sich um Waverly, eine Kleinstadt in Ohio, wo die Karte am 12. April 1910 gestempelt wurde. Der Absender könnte ein Mann namens Frank gewesen sein, dessen Name unten links unverschlüsselt zu erkennen ist.

Quelle/Source: Henle

Der verschlüsselte Text dürfte eine Buchstaben-Ersetzung sein. Das Schema A=1, B=2, C=3 habe ich bereits ausprobiert, jedoch ohne Erfolg. Es muss also eine etwas weniger offensichtliche Tabelle verwendet worden sein.

Schafft es ein Leser, die Karte zu dechiffrieren? Alea Henle würde sich sicherlich freuen.


Further reading:
Linkedin: https://www.linkedin.com/groups/13501820
Facebook: https://www.facebook.com/groups/763282653806483/

Subscribe to Blog via Email

Enter your email address to subscribe to this blog and receive notifications of new posts by email.

Kommentare (10)

  1. #1 Joachim
    22. April 2022

    Zu der Verschlüsselung mag ich nichts voreilig sagen. Außer das ich Buchstaben-Ersetzung auf den ersten Blick für korrekt halte. Das sollte doch automatisch prüfbar sein, oder?

    Aber (off topic!) ich hoffe der erwähnte Buchtitel wird “Codebreaking: A Practical Guide” lieber Schnelltipper 😉

    Und die Melodie ist sicher nicht d-Moll (weil da ist ein #, das G-Dur/E-Moll sagen würde. Ich denke, da fehlt das # vor dem C (auch weil C/#C in der Melodie nicht vorkommt). Das klingt auch genau wie (D-) Dur.

    Alternativ deutet der Grundton D als fünfte Stufe zu G auf “Mixolydisch” hin. Unwahrscheinlich IMHO bei dieser simplen Struktur.

    Den Takt halte ich für 4/4 mit Auftakt. Schwer zu sagen, zu wenig Informationen. IMHO deutet die einfache Melodie darauf (4/4) und nicht auf 3/4 oder 5/4 hin.

    Die punktierte Note könnte auch das F sein, wer weiß.

    Sorry für die Besserwisserei und dieses OT. Bin gespannt, ob jemand etwas zum eigentlichem Thema findet. Wenn die Verschlüsselung auf dem Level der Musik ist, dann dürfte das nicht schwer sein.

  2. #2 Klaus Schmeh
    22. April 2022

    @Joachim:
    >Und die Melodie ist sicher nicht d-Moll
    Stimmt, da war mein Musikunterricht doch zu lange her.

    >Den Takt halte ich für 4/4 mit Auftakt.
    Dann würde nach der ersten Note ein Taktstrich fehlen.

  3. #3 Joachim
    22. April 2022

    “ein Taktstrich fehlen.”: jep.

    Wenn ich mal höflich fragen darf:
    wie könnte man die Punkte mal oben, mal unten auf der Postkarte werten?

    Kann man annehmen, dass die Schrägstriche 1 bedeuten (oder ist das gar egal, weil einfach ein Symbol?)

    Offenbar brauche ich dieses Buch dringend 😉

  4. #4 Armin Krauß
    22. April 2022

    The text is written from right to left. It reads as follows:

    Baby I wanted
    to talk to you
    so bad Am so
    sorry you did
    not have time
    to talk to me
    I sent all the
    love and
    kisses to my
    baby girl
    another kiss
    your baby

  5. #5 Joachim
    22. April 2022

    Cool. How does it work?

  6. #6 Klaus Schmeh
    22. April 2022

    @Armin: Congratulations and thank you very much!!! Another mystery solved. I have informed Alea Henle.

  7. #7 Alea
    23. April 2022

    Wow, thanks for solving the mystery! I appreciate this. If the day comes that I manage to write this up for a scholarly (or popular) article on early 20th C postcards, I’ll be sure to provide proper attribution of the solution.

  8. #8 Tobias
    23. April 2022

    Nach etwas Recherche kann ich vielleicht etwas zur Bildseite der Postkarte beitragen.

    Zuerst: die Melodie ist klar in G-Dur, beginnt mit einem Auftakt (der Taktstrich fehlt), nach dem notierten Taktstrich müsste es eine punktierte Viertel sein.
    Dafür spricht, dass das erste betonte Wort “voice” auf der schweren Taktzeit 1 stehen müsste, die Noten danach umreißen einen G-Dur-Akkord, und ein solcher Anfang auf der 5. Stufe ist sehr typisch für einfache Melodien.

    Ich hätte auf ein Volkslied oder etwas in diesem Stil Komponiertes getippt, und zum Glück gibt es auf Ebay einige Postkarten, die vom Aufbau genau gleich sind, zum Beispiel:
    https://i.ebayimg.com/images/g/X4MAAOSw~W1gE-6n/s-l400.jpg

    Die Melodie zu “Far from the Old Folks at Home” gehört hier zum Song “Swanee River”.
    Schaut man sich dessen Melodie an (https://www.labbe.de/media/47/6b/6c/1605616042/_liederbaum_wway_down_upon_the_swanee_river_454.gif) erkennt man, dass es offenbar Versionen in verschiedenen Tonarten gibt (C-Dur im Notenbeispiel, D-Dur auf der Postkarte), aber dass die Melodie auf der Postkarte fast genau mit einer heutigen Notenausgabe übereinstimmt.
    Dass Details in Rhythmus und Melodie verändert werden, ist bei mündlich überlieferten und sporadisch später verschriftlichten Lieder nicht ungewöhnlich.
    Der Text oberhalb der Melodie scheint ein von den Postkartenautoren passend hinzugefügter Reim zu sein, mit dem Lied selber hat er nichts zu tun.

    Zu der hier vorgestellten Postkarte war die Quellenlage etwas komplizierter: Es gibt einen song, der mit “Thy voice is near me in my dreams” beginnt, veröffentlicht im Jahr 1869:
    https://deriv.nls.uk/dcn3/7440/74407670.3.jpg

    In einem Volksliedarchiv konnte ich auch das Manuskript dazu finden:
    https://media.vwml.org/images/web/CC/CAR-02-05-138.jpg

    Außerdem wird in diversen Zeitungsartikeln erwähnt, dass das Lied gesungen wurde, unter anderem im New Zealand Herald vom 22.11.1892:
    https://paperspast.natlib.govt.nz/newspapers/NZH18921122.2.71?items_per_page=10&page=6301&query=minnie&sort_by=byTY

    Eine Dissertation über Volksliedsammlungen listet als Autor einen gewissen Arthur de Guichard und als Texter “M Lindsay” (https://etheses.whiterose.ac.uk/14510/1/487851_vol1.pdf), außerdem taucht das Lied in verschiedenen Archiven auf, etwa in der Bibliothek der Ball State University:
    https://www.yumpu.com/en/document/read/5423403/sheet-music-collection-1871-1943-home
    Dort wird es als 1910 in Boston beim Verleger Ditson veröffentlicht geführt.

    Letztlich fündig geworden bin ich aber ganz woanders:
    https://archive.org/details/CSM_002307/page/n1/mode/2up
    Hier ist die Melodie so aufgeschrieben, wie ich es vermutet habe, allerdings ist als Texterin eine “Mrs Aylmer” angegeben, als Komponist ein “W. T. Wrighton”.

    Das scheint mir plausibel zu sein, er hat wohl für mindestens drei populäre Lieder die Melodie oder zumindest die Begleitung geschrieben (http://worldcat.org/identities/lccn-no95038062/). Auch eine zweite Ausgabe von “Thy voice is near me” konnte ich so auftreiben:
    https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=mdp.39015096671477&view=1up&seq=3

    Damit ist dann wohl auch das zweite Rätsel der Postkarte gelöst, oder? 🙂

  9. #9 Klaus Schmeh
    23. April 2022

    @Tobias:
    Vielen Dank!! Damit ist in der Tat auch das zweite Rätsel der Postkarte gelöst. Toll, dass es unter meinen Lesern neben Codeknackern auch Musikexperten gibt.

  10. #10 Joachim
    23. April 2022

    Ich bin ehrlich beeindruckt, sowohl (und insbesondere) von Tobias, doch natürlich auch über die schnelle Lösung von 4 Armin Krauß. Und ich kann sogar Beides nachvollziehen. (jetzt im Nachhinein; nacher ist man immer schlauer).

    Das war echt eine Lehrstunde für mich. Bedankt

    (insbesondere auch an Klaus Schmeh, ausdrücklich auch für seine Art)