Eine Zeitungsanzeige aus dem Jahr 1893 enthält eine verschlüsselte Passage. Vermutlich ist diese nicht eindeutig lösbar.
English version (translated with DeepL)
Das Buch “The Agony Column Codes & Ciphers” von Jean Palmer (bürgerlich: Tony Gaffney) ist eine wahre Fundgrube. Über 1.000 verschlüsselte Zeitungsanzeigen aus dem viktorianischen England sind darin abgedruckt. Viele davon hat Tony Gaffney selbst gelöst, doch es bleiben genug ungelöste übrig. Auf Cipherbrain habe ich schon mehrfach über Kryptogramme aus diesem Buch berichtet (zum Beispiel hier, hier, hier, hier und hier).
Eine Anzeige von 1893
Heute möchte ich eine weitere verschlüsselte Anzeige aus Tonys Buch vorstellen, deren Lösung mir nicht bekannt ist. Sie stammt aus dem “Evening Standard” und wurde wurde am 5. Mai 1893 veröffentlicht. Sie hat folgenden Wortlaut:
A.C.O. (CLAUDE). – Dear Gertrude is with me, and has told me everything. I have persuaded her to remain here meantime, and give you one last chance. So far, her people are unaware that she has left you. If you are even now willing to submit to her conditions – which I thoroughly and cordially approve – all will yet be well, as she is ready, after you have complied with her conditions, to forgive and return. So that there may be no possibility of mistake, understand Gertrude’s unalterable conditions are t – y – c – h – a – t – t – d – y – t – a – l – o – h – k – a – b – b – h – m – s – w – w – a – b – r – a – m – t – p – a – t – h – s – i – t – f – w – G – e – t – p – y. Do, my dear Claude, think twice before you refuse this your last chance – I used to have some influence over you – for my sake, as well as your dear wife, and last, but not least, for your own sake: do before it is too late agree to Gertrude’s terms. If you agree, no one, except myself, will know, and Gertrude refused either to write herself or allow me to do so, and will return any letter from you unopened, so you must reply to this in same way. – M.C.E. (MURIEL)
Wie man sieht, ist der größte Teil der Anzeige im Klartext verfasst. Anscheinend fordert hier eine Frau namens Muriel einen Mann (ihren Bruder?) namens Claude auf, sich mit seiner Ehefrau namens Gertrude, die ihn unfreiwillig verlassen hat, zu einigen. Claude soll die Bedingungen von Gertrude annehmen, um die Ehe fortzusetzen.
Ein aussichtsloser Fall?
Kryptografisch interessant ist folgende Buchstabenfolge, die Gertrudes nichtverhandelbare Bedingungen für ihre Rückkehr kodiert (ich werde dafür die Bezeichnung “Gertrude-Kryptogramm” verwenden):
t – y – c – h – a – t – t – d – y – t – a – l – o – h – k – a – b – b – h – m – s – w – w – a – b – r – a – m – t – p – a – t – h – s – i – t – f – w – G – e – t – p – y.
Betrachtet man die Buchstaben-Häufigkeiten im Gertrude-Kryptogramm, dann fällt auf, dass nur ein einziges E, dafür aber mehrere Ts vorkommen. Das W ist immerhin dreimal vertreten. Insgesamt sprechen die Häufigkeiten für ein Abkürzungschiffre. Mit anderen Worten: Die einzelnen Buchstaben sind vermutlich Wortinitialen, die ausgeschrieben den Klartext ergeben. Diese Vermutung wird dadurch gestärkt, dass ein Großbuchstabe im Text enthalten ist, während sonst nur Kleinbuchstaben vorkommen. Der Großbuchstabe, ein G, könnte für “Gertrude” stehen.
Zum Thema Abkürzungschiffren gibt es ein Kapitel in meinem Buch “Codebreaking: A Practical Guide”, das ich mit Elonka Dunin geschrieben habe. Dort kann man auch nachlesen, dass die Freimaurer zahlreiche Bücher verfasst haben, die auf diese Weise verschlüsselt sind (sofern man das Abkürzen als Verschlüsselung bezeichnet). Hier ist ein Beispiel, das allerdings nicht von den Freimaurern, sondern den (ähnlich organisierten) Oddfellows stammt:
Leider sind Abkürzungschiffren in der Regel nicht eindeutig lösbar. Die einzige Möglichkeit, den Klartext zu ermitteln, besteht oft darin, diesen in einem anderen Schriftstück zu finden. Im Falle des Oddfellows-Buchs gelang das meinen Bloglesern (insbesondere Gordian Knauß), wie man hier nachlesen kann.
Auch das Gertrude-Kryptogramm aus der Evening-Standard-Anzeige ist zunächst nicht eindeutig lösbar – es könnte beispielsweise mit “take your chance”, “thank you, child” oder mit einer anderen Wortfolge beginnen, ohne dass man eine mögliche Lösung als richtig oder falsch erkennen könnte.
Ist es möglich, den passenden Klartext in einer anderen Quelle zu finden? Claude, der Empfänger dieser Nachricht, muss diese Möglichkeit gehabt haben, ansonsten ergibt diese Anzeige keinen Sinn. Es ist leider recht unwahrscheinlich, dass es heute noch gelingt, an diesen Text heranzukommen. Doch wer weiß, vielleicht haben meine Leser ja eine Idee. Kommentare hierzu nehme ich gerne entgegen.
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Further reading: Die verschlüsselten Postkarten von Florence Maud Golding
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