Vor einiger Zeit ging es hier um den Unterschied zwischen absoluter und relativer Risikoreduktion beim Impfen, und um die Risikokommunikation, die damit möglich ist oder auch nicht.
Die absolute Risikoreduktion ist eine wichtige Kennziffer bei der Bewertung medizinischer Behandlungen bei Erkrankungen, deren Häufigkeit sich nur träge verändert. Bei Epidemien übertragbarer Erkrankungen mit potentiell katastrophaler Dynamik kann der Blick auf die absolute Risikoreduktion schnell ein Blick in den Nebel mit Abgründen werden: Sie ist die Differenz zwischen den Infektionsraten der Ungeimpften und der Geimpften (bzw. der Erkrankungsraten der beiden Gruppen, je nachdem, wofür man sich interessiert) und hängt ersichtlich vom empirisch gerade bestehenden Infektionsrisiko ab.
Ein Beispiel für den Abgrund im Nebel: In Deutschland zirkulieren seit längerem keine Polioviren mehr. Das Risiko, auf eine infizierte Person zu treffen, ist für Geimpfte wie für Ungeimpfte nahezu Null, somit auch die absolute Risikoreduktion. De facto verhindert also die Polioimpfung bei uns derzeit so gut wie keine Infektionen, sie ist eine rein präventive Maßnahme. Der Kehrwert der absoluten Risikoreduktion ist die NNTV, die number needed to vaccinate. Sie gibt an, wie viele Menschen man impfen muss, um eine Infektion oder eine Erkrankung zu verhindern. Für Polio würde ihre empirische Bestimmung anhand geimpfter und ungeimpfter Kollektive in Deutschland daher unendlich groß sein. Trotzdem kommt niemand auf die Idee, deswegen die Polioimpfung abzuschaffen, weil man sonst befürchten müsste, dass die Krankheit bald wieder mit all ihren schrecklichen Folgen hierzulande grassiert.
Genau so argumentieren aber Walach et al. in einem gerade veröffentlichten Artikel in Bezug auf die Coronaimpfung. Die Autoren gehen von Daten zur absoluten Risikoreduktion aus, die ihren Ursprung in einer Situation mit geringen Infektionsraten haben. Die NNTV fällt vergleichsweise hoch aus, Walach et al. folgern, daher nehme man zu viele Impfnebenwirkungen in Kauf. Das ist eine Milchmädchenrechnung, die voraussetzt, dass das Risiko, auf Infizierte zu treffen, einfach immer klein bleibt, dass es also keine Epidemie gibt. Das Infektions- bzw. Erkrankungsrisiko der Ungeimpften hängt aber davon ab, wie weit eine Bevölkerung schon durchseucht ist, ob Infektionsschutzmaßnahmen ergriffen wurden, saisonale Faktoren wirksam sind usw. Die NNTV müsste man, wenn man damit überhaupt argumentieren wollte, einerseits anhand des Potentials an Infektionen, zu Beginn einer Epidemie also an der Herdenimmunitätsschwelle, und andererseits der Impfstoffwirksamkeit abschätzen. Darüber gehen Walach et al. hinweg und die demgegenüber ohnehin einschlägigeren sorgfältigen Nutzen-Risikoabwägungen der STIKO ignorieren die Autoren gänzlich.
Sie verwirren stattdessen mit ihren Zahlen vermutlich viele, die unsicher sind, ob sie sich impfen lassen sollen: Sie führen die Herde durch den Nebel in den Abgrund. Und es geht wirklich um eine große Herde, wenn man sich die Abrufstatistiken anschaut: Innerhalb von drei Tagen von Null auf über 150.000. Damit hält keine Impfaufklärung der BZgA mehr Schritt.
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