Eigentlich ist die Sache mit den Daten, die die AfD von der KBV angefragt hatte, ja durch: Die Daten geben einfach nicht her, was die AfD und ihr „Datenanalyst“ Tom Lausen daraus machen wollen. Selbst wenn die Daten nicht selektiv gewesen wären: Die Vorstellung, mit einer einfachen Auszählung von Abrechnungsdaten die Gesamtheit der Studienbefunde kippen zu können, ist einfach abenteuerlich.
Allein bei Pubmed gibt es inzwischen zum Suchstring „covid-19 AND vaccination AND effectiveness“ etwa 22.000 wissenschaftliche Studien, und noch jede Menge, die nur auf den Preprint-Servern liegen. Die dramatischen Befunde der AfD kommen darin nicht vor. Angesichts dessen hätte jeder, der schon einmal zwei Zahlen addiert hat, auf die Idee kommen können, dass man Daten, die sehr ungewöhnliche Ergebnisse zeigen, noch einmal genau auf Herz und Nieren prüfen und mit Fachleuten zusammen Interpretationsmöglichkeiten und echte oder vermeintliche Diskrepanzen zur Studienlage ausgiebig diskutieren müsste, bevor man mit alarmistischen Nachrichten an die Öffentlichkeit geht.
Die Querdenkerszene pflegt hier aber einen anderen Umgang mit Daten, weil Daten für sie nur Munition im Kampf gegen „die da“ sind, die Lauterbachs, Drostens und Wielers, samt dem ganzen wissenschaftlichen Mainstream. Nicht nur die AfD ging am 12. Dezember daher sofort an die Öffentlichkeit, dem Begleitbrief der KBV zu den Daten zufolge gerade mal zwei Wochen nach der Datenlieferung. Auch ein seit einiger Zeit beim Thema Impfschäden aktiver Verein „MBV“, bei dem man gar nicht weiß, wer dahintersteckt, hatte am 12. Dezember bereits einen professionell layouteten Flyer fertig mit der Botschaft „Tausende, völlig gesunde Menschen, sind seit Beginn der Impfungen plötzlich verstorben“.
Dass seit Beginn der Impfungen tausende Menschen verstorben sind, ist natürlich richtig, die Impfung verleiht ja nicht Unsterblichkeit. Dass es „völlig gesunde“ Menschen waren, ist spekulativ und unwahrscheinlich und dass die Impfungen für tausende plötzliche Tote ursächlich waren, ist Unsinn. Das zeigt der Verlauf der Todesursachen, die die AfD dazu vorgelegt hatte, unmissverständlich. Was speziell die auf dem Flyer dargestellte ICD-Ziffer R96.0 angeht: Hinter dieser Ziffer stehen keine „tausende Tote“ und es gibt 2021 auch keinen Sprung. Fallzahlen lt. Todesursachenstatistik von 2016 bis 2021: 220, 187, 188, 173, 199, 203. Der Flyer enthält weitere unhaltbare, allen wissenschaftlichen Befunden widersprechende Behauptungen, z.B. heißt es:
„Die Impfungen (…) schützen nicht vor schweren Verläufen und Tod (…), denn die Anzahl der Geimpften und Geboosterten auf den Intensivstationen nimmt zu.“
Der erste Teil steht wieder gegen die Studienlage, beim zweiten Teil kann man sich fragen, was überhaupt gemeint ist. Dass es immer mehr geimpfte und geboosterte Intensivpatienten gibt, egal mit welcher Aufnahmediagnose? Oder immer mehr geimpfte und geboosterte Covid-Fälle auf der Intensivstation? Die Anzahl der Covid-Fälle auf den Intensivstationen hat im letzten Jahr insgesamt nicht zugenommen. Gab es Anfang 2022 ca. 5.000 Covid-Fälle auf den Intensivstationen, so sind es heute knapp 1.400. Vielleicht ist auch nicht die „Anzahl“ gemeint, sondern der „Anteil“ der Geimpften und Geboosterten unter den Fällen auf der Intensivstation? Das als Alarmsignal zu sehen, ist der Klassiker des Irrtums beim einfachen Fälle-Zählen, inzwischen sicher hundertfach erklärt: Mit der Zahl der Geimpften und Geboosterten in der Bevölkerung nimmt praktisch zwangsläufig der Anteil dieser Gruppe unter den Intensivpatienten zu, bis er, bei einer vollständig geimpften Bevölkerung, 100 % betragen würde.
So könnte man den Flyer Punkt für Punkt durchgehen. Der Flyer zeigt beispielsweise eine Grafik mit einem Anstieg der Krebsdiagnosen mit der ICD-Ziffer C78.2 seit 2016, mit einem Sprung 2021. Warum diese spezielle Form des Lungenkrebses (sekundäre Neubildungen der Pleura) ausgewählt wurde, weiß ich nicht. Schaut man in die Krankenhausstatistik, gibt es da weder einen Anstieg noch einen Sprung 2021. Die Fallzahlen sind seit 2016 vielmehr tendenziell rückläufig (!): Es geht von 8.722 Fällen im Jahr 2016 über 7839, 7871, 7.820, 7.131 bis schließlich 7.212 Fällen im Jahr 2021. Das passt alles nicht zusammen. Ganz davon abgesehen, dass so eine Turbokrebsentwicklung – Lungenkrebs wenige Monate nach einer Exposition bei einer Vielzahl von Menschen – medizinisch völlig unerklärlich wäre.
Noch dramatischer sieht eine Grafik auf dem Flyer zur ICD-Ziffer C91.5 aus, das „Adulte(s) T-Zell-Lymphom/Leukämie (HTLV-1-assoziiert)“. Da wird ein stabiler Verlauf bis einschließlich des zweiten Quartals 2021 gezeigt, und dann ein dramatischer Sprung. Und was zeigt die Krankenhausstatistik? Erstens wie schon bei C78.2 weder Anstieg noch Sprung, zweitens, dass es sich um eine extrem seltene Diagnose handelt. Stationär wurden 2021 gerade einmal 404 Patienten behandelt, im Jahr zuvor waren es 398. Vielleicht werden ambulant hier mehr behandelt, aber im Flyer wird die absolute Zahl gar nicht angeben, man müsste sie im Datenmaterial der AfD nachschauen. Wer will, der soll.
Wer von den Menschen, die den Flyer in die Hand gedrückt bekommen oder im Briefkasten finden, wird sich die Mühe machen, irgendetwas aus dem Flyer zu prüfen? Hier werden Menschen gezielt mit Zahlen manipuliert. Der Flyer soll vermutlich verunsicherte Menschen ködern und womöglich zu Patienten für obskure Therapien machen. Falls hier wirklich Ärzte am Werk waren, sollten sie sich fragen, wie sie das mit ihrem hippokratischen Eid vereinbaren. Anzumerken wäre aber auch, dass solch dubiosen Angeboten Vorschub dadurch geleistet wird, dass es für Menschen mit Beschwerden nach der Impfung nicht selten schwer ist, seriöse Hilfe zu finden. Wie so oft in der Medizin sind reale Mängel in der Versorgung die Türöffner für Scharlatane.
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Edit 31.12.2022: Habe noch einen kurzen Passus zur ICD-Ziffer R96.0 ergänzt, weil die Kurve dazu in dem verlinkten Blogbeitrag aufgrund sehr kleiner Fallzahlen sozusagen „unsichtbar“ an der X-Achse klebt und die Absurdität der Grafik im Flyer somit leicht übersehen wird.
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