Blog-Leser Karsten Hansky hat mir ein interessantes verschlüsseltes Dokument aus Frankreich zukommen lassen. Die Entschlüsselung und ausführliche Informationen zum geschichtlichen Hintergrund hat er gleich mitgeliefert.
English version (translated with DeepL)
Karsten Hansky hat mir für Cipherbrain schon so manches interessante verschlüsselte Dokument aus seiner Sammlung zur Verfügung gestellt – darunter ein Buch und mehrere Postkarten, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Vor ein paar Tagen kam ein weiteres Schriftstück dazu: Es geht um eine verschlüsselte Depesche aus Fankreich.
Eine Depesche, so habe ich bei dieser Gelegenheit gelernt, ist eine Eilnachricht und unterscheidet sich damit von einem Brief. Im vorliegenden Fall wurde die Depesche per berittenem Boten oder auf dem Seeweg transportiert. Das war nicht der normale Weg für übliche Post.
Die verschlüsselte Depesche
Absender der Depesche war der französische Kriegsminister Henri Clarke (1765-1818). Er schickte das Schreiben am 19. Oktober 1812 aus Paris an General Marie-François Auguste de Caffarelli du Falga (1766-1849), den Befehlshaber der Nordarmee in Spanien.
Karsten hat mir dankenswerterweise eine ausführliche und beeindruckend gut recherchierte Darstellung der Depesche und der Hintergründe überlassen. Diese sehr lesenswerte Arbeit gibt es hier auf Deutsch und Englisch. Neben Karsten hat der französische Krypto-Geschichtsexperte Jean-François Bouchaudy mitgewirkt. Der vorliegenden Blog-Artikel ist auf Basis dieser bisher unveröffentlichten Arbeit entstanden.
Karsten hat die Clarke-Depesche im Frühjahr 2021 von einem amerikanischen Händler per Internet-Auktion erworben. Über ihre Provenienz gibt es keine weiteren Informationen, außer dass der Händler das Schriftstück bei einer Nachlassauktion gekauft hat. Hier ist ein Scan:
Karsten hat die folgende Transkription erstellt:
Die Depesche ist in französischer Sprache verfasst. Drei Textpassagen (farblich markiert) sind mit Zahlen verschlüsselt, der Rest ist im Klartext notiert. Anscheinend wurde zur Verschlüsselung ein Nomenklator eingesetzt.
Die linke Spalte enthält weitere verschlüsselte Textpassagen. Dabei handelt es sich, wie Karsten ermittelt hat, um eine Verschlüsselung des gleichen Klartextes mittels einer anderen Codetabelle. Darauf will ich nicht näher eingehen.
Der Hintergrund
Karsten hat den Hintergrund der Depeche sehr gründlich recherchiert, was ich im Folgenden zusammenfasse. Im Jahre 1812 hatte Frankreich große Teile Spaniens besetzt. Die französischen Truppen unterteilten sich in mehrere Armeen:
- Nordarmee unter dem Kommando von General Caffarelli
- Armee von Portugal unter dem Kommando von General Souham
- Zentralarmee unter dem Kommando von König Joseph Bonaparte (Bruder von Napoleon), der von Marschall Jourdan als Stabschef unterstützt wurde
- Südarmee unter dem Kommando von Marschall Soult
- Armee von Aragon und Valencia unter dem Kommando von Marschall Suchet
- Armee von Katalonien unter dem Kommando von General Decaen
Den französischen Armeen gegenüber stand eine Allianz aus der britischen Expeditionsarmee und portu-giesischen Truppen. Diese Allianz wurde von Lord Wellington kommandiert.
Zwischen dem 19. September und dem 21. Oktober 1812 belagerte Wellingtons Armee die Stadt Burgos. Vorausgegangen war ein wichtiger Sieg der alliierten Truppen in der Schlacht bei Salamanca am 22. Juli 1812. Die französische Armee von Portugal unter dem Kommando von Marschall Marmont erlitt dabei schwere Verluste. Marschall Marmont wurde während der Schlacht schwer verletzt, und General Souham übernahm das Kommando der Armee von Portugal.
In den nachfolgenden Wochen marschierten Wellingtons Truppen in der Hauptstadt Madrid ein. Im September 1812 teilte Lord Wellington seine Armee auf. Er marschierte mit einem Teil seiner Truppen von Madrid nach Norden in Richtung Burgos, während General Rowland Hill mit dem Rest der Truppen südlich von Madrid am Fluss Tajo Stellung bezog, um eine Verteidigungslinie gegen die südlichen französischen Armeen aufzubauen. In Madrid wurden nur wenige Truppenteile zurückgelassen.
Lord Wellington unternahm die Belagerung von Burgos, da nach seiner Einschätzung die Armee von Portugal die Verluste aus der Schlacht von Salamanca noch nicht wieder aufgefüllt hatte und daher noch nicht bereit für eine neue Offensive war. Die Nordarmee unter General Caffarelli wurde durch Guerilla-Kämpfer an verschiedenen Orten beschäftigt, so dass Wellington annahm, dass von dort keine Truppen zur Unterstützung der Armee von Portugal abkommandiert werden konnten. Wellington erwartete ebenso auch kein Vorrücken der Südarmee unter Marschall Soult in Richtung Madrid, da dazu ganz Andalusien von den französischen Truppen geräumt werden müsste.
Alle diese Annahmen erwiesen sich jedoch als falsch. Die Truppen Marschall Suchets wurden von der französi-schen Seite als stark genug eingeschätzt, Valencia ohne weitere Unterstützung zu halten. Die Südarmee Marschall Soults vereinige sich mit der Zentralarmee von König Joseph und setzte sich in Richtung Norden in Bewegung. Andalusien wurde dabei tatsächlich von französischen Truppen geräumt. Gleichzeitig marschierte General Caffarelli mit etwa 10 000 Mann von Vitoria aus über Briviesca in Richtung Burgos um die Armee von Portugal zu unterstützen und Wellington zu einer Schlacht herauszufordern.
Die lange Dauer der Belagerung von Burgos und die falschen Annahmen über das Vorgehen der französischen Truppen brachten Lord Wellington in Bedrängnis. Er war mit seinen Truppen im Norden der Armee von Portugal und deren Verstärkung durch die Nordarmee zahlenmäßig unterlegen. Gleiches galt im Süden für die Truppen von General Hill am Tajo, die der vereinigten Zentral- und Südarmee zahlenmäßig unterlegen waren.
Für die alliierten Truppen entstand die akute Bedrohung, durch eine Zangenbewegung gleichzeitig im Norden und im Süden angegriffen zu werden. Lord Wellington brach die Belagerung von Burgos gerade noch rechtzeitig vor dem Eintreffen der französischen Armeen ab. Er beorderte General Hill mit seinen Truppen nach Norden in Richtung Salamanca, um sich mit ihm zu vereinigen. Die Hauptstadt Madrid wurde aufgegeben und im weiteren Verlauf zogen sich die alliierten Truppen nach Ciudad Rodrigo an der spanisch-portugiesischen Grenze zurück.
Der Klartext
Normalerweise würde ich an dieser Stelle fragen, wie man dieses Kryptogramm entschlüsseln kann. Das ist in diesem Fall jedoch nicht notwendig, denn ein Zettel mit dem Klartext der verschlüsselten Passagen ist an die Depesche geheftet:
Hier ist Karstens Transkription:
Wenn wir diesen Text mit der Transkription der verschlüsselten Stelle in der Depesche vergleichen, wird auch klar, wofür die einzelnen Zahlen stehen (weiter unten gibt es eine detaillierte Gegenüberstellung):
Auf Deutsch übersetzt liest sich der Klartext wie folgt:
General,
ich habe den Brief, den Sie mir am 10. d. M. geschrieben haben, um mir Ihre Abreise aus Vittoria, mit den Beiträgen [Truppen?, Verstärkung?], die Sie der Armee von Portugal bringen müssen, mitzuteilen, erhalten; ich erwarte das Ergebnis dieser Operation mit großem Interesse. Mit meinem Brief vom 14. habe ich Sie über die an der Grenze von Valencia zwischen den Armeen des Südens und des Zentrums durchgeführte Vereinigung informiert; seitdem habe ich die Briefe des Königs von San Felipe mit Datum des 7. d. M. erhalten. Er hatte am 3. den Herzog von Dalmatien, um einige Ru-hetage erbeten. Seine Majestät schlug vor, so zu handeln, um die Unternehmung wiederherzustellen. Es ist anzunehmen, dass die vereinigten Armeen des Südens und des Zentrums sich vom 10. bis spätes-tens zum 12. in Marsch setzen konnten, um den Tajo in Richtung Tarancón zu kommen. Sie dürfen das also bald selbst durch den Einfluss, den diese Bewegung notwendigerweise auf die Handlungen von Lord Wellington und, in der Folge, auf den Standort der Armee von Portugal haben wird, feststellen. Verlieren Sie keine Zeit, General, mich über alle Kenntnisse, die Ihnen in dieser Hinsicht zukommen, zu informieren.
Mit freundlichen Grüßen [an eine rangniedere Person]
Der Kriegsminister Herzog von Feltre
An Herrn General Graf Caffarelli
Der Nomenklator
Auch ohne den beigehefteten Zettel hätte man die Clarke-Depesche entschlüsseln können. Der besagte französische Krypto-Geschichtsexperte Jean-François Bouchaudy hat nämlich den zugehörigen Nomenklator (es handelt sich um die so genannte “Große Chiffre”) im Archiv des SHD (Service Historique de la Défense) in Vincenne gefunden (SHD Karton 1M-2352).
Der folgende Ausschnitt aus dem Nomenklator zeigt die Codegruppe 1383 (»le Tage«):
Basierend auf dieser Tabelle lassen sich die codierten Textpassagen wie folgt lesen:
(1) 280 – 597 – 914 – 544 – 1096– 637– 173– 330 – 413 - 656 demandé – quelques – jours – de – re – po – s – après – les – quels. (2) 112– 252 – 58 – 786 – 703 – 23 – 739 du – dix – aux – douze – aux – plus – tard (3) 1383 – 906 - 670 – 701 – 323 – 761 – 289 – 168 – 718 – 694 Le Tage – en – se - direct - ant – par – ta – ra – n – con
Das Wort »direct-ant« muss eigentlich »dirigeant« heißen. Möglicherweise hat der für die Kodierung zuständige Sekretär die passenden Silben im Nomenklator nicht gefunden.
George Scovell
Wie man heute weiß, konnte Lord Wellington die »Große Chiffre« weitgehend mitlesen. Verantwortlich dafür war George Scovell, ein britischer Offizier und Codeknacker. In mühevoller Kleinarbeit gelang es ihm, aus einer größe-ren Anzahl abgefangener Depeschen, große Teile der Codetabelle zu rekonstruieren – eine für die damalige Zeit bahnbrechende Arbeit. Die folgende Abbildung zeigt die von ihm angefertigte Rekonstruktion des Nomenklators:
Eine offene Frage
Zum Abschluss dieses langen Artikels möchte ich mich sehr herzlich bei Karsten Hansky und Jean-François Bouchaudy bedanken. Es ist wirklich beeindruckend, was die beiden über diese Depesche herausgefunden haben. Ich freue mich sehr, dass Karsten mir die Gelegenheit gegeben hat, seine ausführlichen Recherche-Ergebnisse auf meinem Blog zu veröffentlichen.
Eine Frage konnte Karsten allerdings nicht beantworten. Es geht um die Bezeichnung “Roi de San Felipe” (“König von San Felipe”). Mit dieser wird auf König Joseph Bonaparte verwiesen. Karsten hat trotz intensiver Recherche keinen Bezug zwischen König Joseph und San Felipe herstellen können. Auch Jean-François Bouchaudy hat keine Idee. Weiß ein Leser mehr?
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Further reading: Das verschlüsselte Telegramm eines Astronomen
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