Im 19. Jahrhundert veröffentlichte eine Frauen-Geheimgesellschaft in London zwei verschlüsselte Bücher. Diese Kryptogramme sind zwar längst entschlüsselt, doch über die Geheimgesellschaft ist so gut wie nichts bekannt.

English version (translated with DeepL)

Wer sich für die Geschichte der Kryptografie interessiert, stößt zwangsläufig irgendwann auf Geheimgesellschaften wie die Freimaurer. Solche Organisationen wurden oft gegründet, um bestimmte Ideen zu verfolgen, ohne dass die Öffentlichkeit etwas davon mitbekam. In einer Zeit, als Kritik an der Obrigkeit ernsthafte Konsequenzen haben konnte, waren Geheimgesellschaften oft die einzige Möglichkeit, um neue gesellschaftliche Ideen zu diskutieren.

 

Die Verschlüsselungen der Geheimgesellschaften

Nahezu zwangsläufig spielte in vielen Geheimgesellschaften die Verschlüsselung eine Rolle. Insbesondere von den Freimaurern sind zahlreiche verschlüsselte Dokumente bekannt, von denen ich einige schon auf Cipherbrain erwähnt habe. Das “Dreiecksbuch” ist ein schönes Beispiel.

Quelle/Source: Internat Archive

Andere Geheimgesellschaften, die mir in diesem Zusammenhang schon begegnet sind, sind die Oddfellows, die Oculisten, die Rosenkreuzer und die Carbonari. Der Codex Copiale stammt beispielsweise von den Oculisten, einer Geheimgesellschaft von Augenheilkundlern:

Quelle/Source: Wikimedia Commons

 

Der Jungfrauen-Bund

Eine besonders interessante Geheimgesellschaft war die “Association of Maiden Unity and Attachment”, die um 1835 in London aktiv gewesen sein muss. Deren Mitglieder waren offenbar Frauen.

Die “Association of Maiden Unity and Attachment” ließ zwei verschlüsselte Bücher drucken. Je ein Exemplar davon ist heute in der British Library in London vorhanden. Weitere Exemplare sind mir nicht bekannt.

Ich habe mir vor einigen Jahren beide Bücher vor Ort in London angesehen. Leider darf man in der British Library nicht fotografieren. Man kann sich zwar Scans der jeweiligen Unterlagen erstellen lassen, doch das war mir zu teuer und zu umständlich. Ich habe mich daher damit begnügt, ein paar Seiten der beiden Bücher auf dem Laptop abzutippen. Die folgenden Bilder sind so entstanden. Sie sind zwar keine Originale, sehen aber ähnlich aus.

 

UMGJOML NÝFLOBJOF

Das erste Buch des Jungfrauen-Bundes hat den Titel UMGJOML NÝFLOBJOF. Laut Titelseite ist es 1835 in London erschienen. Ich habe es unter der Nummer 00006 in meine Encrypted Book List aufgenommen. Das folgende Bild zeigt links das Titelblatt, rechts eine Seite:

Quelle/Source: Schmeh

UMGJOML NÝFLOBJOF sieht aus wie ein Roman, der in einer Fremdsprache verfasst ist. In Wirklichkeit handelt es sich um verschlüsseltes Englisch. Tony Gaffney hat die Verschlüsselung gelöst. Sie erwies sich als einfache Buchstabenersetzung, die Tony mit geratenen Wörtern und einer Häufigkeitsanalyse knacken konnte. Die Ersetzungstabelle wurde teilweise (absichtlichtlich?) recht schlampig verwendet.

Der Titel des Buchs lautet entschlüsselt ANCIENT MYSTERIES:

Quelle/Source: Schmeh

Hier ist die Ersetzungstabelle:

A = U
B = R
C = G
D = P
E = O
F = S
G = C
H = Y
I = J
J = I
K = ?
L = T
M = N
N = M
O = E
P = D
Q = ?
R = B
S = F
T = L
U = A
V = W
W = V
X = ?
Y = H
Z = ?

Auf der oben gezeigten Seite des Buchs ist ein Gedicht abgedruckt. Ansonsten kann man in diesem Werk allerlei Regeln der Association of Maiden Unity and Attachment nachlesen. Als Mitglieder waren nur Jungfrauen zugelassen, die nicht von niederer Geburt sein oder den Status einer Dienerin haben durften.

Dass das Buch aussieht wie ein fremsprachiger Roman, ist vermutlich Absicht und sollte der Tarnung dienen.

 

NÝFLOBJOF ED WOFLU

Das zweite verschlüsselte Buch Bundes (Nummer 00007 auf meiner Encrypted Book List) heißt NÝFLOBJOF ED WOFLU. Hier ist die erste Seite:

Quelle/Source: Schmeh

Die Buchstabenersetzung ist die gleiche wie bei ANCIENT MYSTERIES, wodurch man den Titel in MYSTERIES OF VESTA entschlüsseln kann. Leider enthält dieses Buch keine Hinweise auf den Erscheinungsort oder das Erscheinungsjahr. Ich vermute, es handelt sich um die Fortsetzung des oben beschriebenen Buchs.

 

Wer steckte dahinter?

Zu meinem Bedauern konnte ich bisher kaum etwas über die Association of Maiden Unity and Attachment herausfinden. Vermutlich existierte diese Gesellschaft nicht allzu lange und hinterließ keine größeren Spuren. Sie muss jedoch in der Lage gewesen sein, zwei Bücher drucken zu lassen, was sich damals nicht jeder leisten konnte.

Weiß ein Leser mehr über diese Geheimgesellschaft oder über deren Bücher? Gibt es weitere Exemplare? Bei einem gedruckten Buch wäre das zu erwarten. Gab es ähnliche Gesellschaften, die bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aktiv waren?

Sachdienliche Hinweise nehme ich gerne entgegen.


Further reading: Can you solve these encrypted notes from a travel book?

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Kommentare (6)

  1. #1 M.Ellguth
    20. November 2021

    Das habe ich dazu gefunden:
    https://hymnary.org/text/in_den_ersten_gnadentagen
    und
    http://www.frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=46

    Demnach waren es ledige Schwestern der Herrenhut-Gemeinde und mit Nonnen vergleichbar, also keine der üblichen Geheimbünde.

  2. #3 Klaus Schmeh
    21. November 2021

    @M.Ellguth
    >Demnach waren es ledige Schwestern
    >der Herrenhut-Gemeinde
    Interessant. Aber ist der Jungfrauenbund von Anna Nitschmann und Anna Dober mit der “Association of Maiden Unity and Attachment” identisch?

  3. #4 Thomas
    21. November 2021

    According to the newspaper article linked by TWO, the books were (at least partly) decrypted already in 1869!

    Judging from their non-Christian (somehow masonic) cult reported in that article I doubt that this was Anna Nitschmann’s Jungfrauenbund, all the more as the books were written in English and published in London.

  4. #5 Norbert
    21. November 2021

    Zur Chiffre:

    1) Da sie offensichtlich reziprok ist (A->U->A, B->R->B usw.) und Crooq wohl für Greek steht, kann man Tonys Ersetzungstabelle folgendermaßen ergänzen:

    K = Q
    Q = K
    X = Z
    Z = X

    2) Der Buchstabe H kann alternativ durch einen Apostroph chiffriert werden.

    3) Zu guter Letzt scheint es erlaubt, einen oder mehrere Buchstaben in einem Wort unverschlüsselt stehen zu lassen.

    Mit diesen Regeln kommt man zu lesbarem Text, ohne den Damen Schlamperei unterstellen zu müssen 🙂 Zum Beispiel die ersten beiden Verse von “Ancient Mysteries” auf S. 40:

    Yet though the goddess and the nyhmph confessed
    Those mutual sires, that pure and ardent glow,
    (…)

  5. #6 Klaus Schmeh
    21. November 2021

    >Mit diesen Regeln kommt man zu lesbarem Text,
    >ohne den Damen Schlamperei unterstellen
    >zu müssen
    Wie konnte ich nur? 😉