Eines kann niemand übersehen haben: Die vergangen zwei Jahre haben dem Wissenschaftsverständnis ungemeinen Auftrieb gegeben. “R-Wert”, “expotentielles Wachstum”, “ACE2-Rezeptor”, “Spike-Protein” und sehr viel mehr Begriffe der Virologie, Physiologie, Epidemiologie und Aerosolforschung werden von Menschen verwendet, die nie mit Medizin und Naturwissenschaft in Kontakt kamen – und zu großen Teilen durchaus sachkundig. Coronapodcast(s), Blogs und viele wirklich gute Zeitschriftenartikel, Fernsehbeiträge und mehr haben wirklich gute Wissenschaftskommunikation geleistet. Als Proteinbiophysiker habe ich früher Schwierigkeiten gehabt, anderen Menschen überhaupt nahezubringen, was ein Protein ist – im Alltag bleibt halt nicht unbedingt das Abiturwissen haften.

Insofern wurden Studien und Veröffentlichung von Datenbanken vom RKI und seinen internationalen Pendants auch für die Coronaleugnerszene wichtig – bei Ex-Wissenschaftlern, ebenso wie bei manchen Ärzten, sogar bei evangelikalen Pokerspielern. Wer sich nun auf die Seiten der Leugnerzene gibt (die ich hier nicht wieder verlinke, sie haben ausreichend viele BesucherInnen), findet leicht Diskussionen zu “Beweisen” und “Korrelationen” – ungefähr auf Niveau der Storchenstatistik – immer wieder neu verpackt und insgesamt wenig überraschend.

Doch wurde ich auf den “Beweis” aufmerksam, dass “die Impfung mit Genmaterial” (gemeint war mit einem mRNA-basierten Impfstoff) die sportliche Leistung schmälert. Die anderen Schlußfolgerungen erspare ich der geneigten Leserschaft hier ebenfalls, denn interessant ist es, weil der “Beweis” in einem dedizierten Coronaleugnerjournal erschien, dem “Primary Doctor Medical Journal – A peer-reviewed journal by physicians and scientists without commercial influence“. Und das bedeutet, mit anderem Worten, einigen Protagonisten der Leugnerszene ist die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit so wichtig, dass sie sogar eine eigene Zeitschrift gründen!

Ein paar Dinge sind mir direkt aufgefallen, also ich habe am 30. Januar dieses Jahres nachgefragt:

Dear Sir or Madam,

Thank you for setting up the PDM-Journal.

I have a couple of questions concerning the quality of articles and the journal in general. I once helped setting up a journal and know that during the first issues, some things might not be working, yet.

  • which review criteria are applied?
  • would it not be helpful to require authors to supply their raw data?
  • articles do not have a digital object identifier (DOI).
  • the journal apparently does not have an ISSN and is not listed in PubMed. Citing articles is hence impaired. Are there any plans to change this?

These are all aspects which might help, such that articles are not automatically discredited.

Kind regards

Ok, das mit der eigenen Hilfe zur Einführung einer wissenschaftlichen Zeitschrift ist nicht falsch, aber stark übertrieben. Vielleicht hätte ich auch noch mehr Honig um den Bart schmieren sollen? Eine Antwort jedenfalls bleibt bis heute aus – quelle surprise.

Das alles sind jedoch wichtige Fragen und man ahnt es schon: Bei allen Kriterien schneidet diese “Zeitschrift”(*) schlecht ab. Nun, dem – wahrscheinlich nicht erfolgten – Review können wir uns gleich zuwenden, zunächst zu den formalen Fragen: Ohne Eintrag in die gängigen Literaturdatenbanken, wozu es DOI und ISSN braucht, kann man nicht verlässlich danach suchen, Änderungen sind möglich und insgesamt ist man auf Verbreitung in einschlägigen Medien angewiesen. Dies alles ist schon mal wenig Vertrauen erweckend. Und ist es überhaupt eine “Zeitschrift”? Es gibt weder ein Impressum, noch sonstige Hintergründe zu den Machern hinter der Seite.

Aber halt! Da gibt es ja jenen “Beweis”, dass Impfungen mit Cominarty die sportliche Leistung von SchülerInnen nachhaltig einschränken. Und wir sollten zur Sache kommen und uns nicht mit Formalitäten aufhalten:

Was wurde wie untersucht?

Letztlich haben die Autoren zwei Sporttrainer wurden befragt, wie gut sie die sportlichen Leistungen von zwanzig SchülerInnen einschätzten:

Fifteen of these student athletes are high school students, and the rest are younger. The student athletes spoke freely and informally with the coaches about who received the vaccine and how they felt afterward, and who did not receive any vaccines. The student athletes’ parents’ choices regarding vaccination of their children were unknown to the coaches or to us until after those injections. The parents’ choices regarding vaccination of their children had spontaneously formed an experimental group versus a control group, with none blinded.

Mit anderen Worten: man geht davon aus, dass dies Wissenschaft ist, denn man hat ja eine Kontrollgruppe. In der Veröffentlichung fehlen sämtliche quantitativen Daten (z. B. sportliche Leistung vor und nach Impfung). Auch die Angaben zu Trainingszeiten der Individuen (saßen die Vorsichtigen und Geimpften eine Zeitlang zu Hause, während die Ungeimpften sorglos weiter trainierten?) fehlen. Nicht zuletzt fehlen die Daten dieser Untersuchung, es gibt kein “supplementary material”, also Anhänge zur Veröffentlichung. Und vor allem: eine Verblindung fehlt, bei der derzeitigen Stimmung ist nicht auszuschließen, dass die Einstellung der Autoren die Beurteilung beeinflusste. Die gesamte Veröffentlichung entbehrt jeder Statistik.

Andererseits werden einschlägige Verschwörungsseiten als wissenschaftliche Quellen zitiert, u. a. der hier auf rupture de catenaire so beliebte Herr Bhakdi – und zwar auf eine weitere obskure Seite, die mittels zweifelhafter Behauptungen und anekdotischen Belegen Tote ursächlich in Zusammenhand mit Impfungen gegen SARS-CoV-2 bringen will. Von lediglich sieben Zitaten weist nur eines auf eine Veröffentlichung in einem etablierten wissenschaftlichen Journal.

Andere Veröffentlichungen des Journals sind von ähnlicher Qualität. Eine Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Arbeit und Diskussionsbeitrag findet nicht statt. Dies alles rechtfertigt in meinen Augen das Siegel: reine Cargo-Kult-Wissenschaft!

Wie soll es weitergehen?

Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation sind mir wichtig. Der Auftrieb, den die Wissenschaft insgesamt durch die drängenden Fragen unserer Zeit erfährt, ist gut – und provoziert einigen Widerstand, denn offenbar ist “Wissenschaft” für einige Menschen ein rotes Tuch. Auch hier im Blog gab es immer wieder Kommentare oder direkte Nachrichten an mich aus der Coronaleugner- oder rechten Szene. Wenn es überhaupt Belege für die dort erbrachten Argumente gab, dann oft von der Qualität, die hier in diesem Beitrag diskutiert wurde. Nun, über Wissenschaft können wir gerne diskutieren und evidenzbasiert sollten wir diskutieren (wo möglich). Aber eine Angabe einer glaubwürdigen Quelle, welche die Kriterien einer wissenschaftlichen Arbeit erfüllt – das sind Mindestforderungen für eine gute Diskussion. Irgendwann ist die Pandemie vorbei und es ist bereits absehbar, dass die gesellschaftlichen Spannungen damit nicht vorbei sein werden. Ich hoffe hier auf scienceblogs bekommen wir eine bessere Diskussionskultur als auf den Coronaleugnerseiten hin, vielleicht wird der Verweis auf diesen Beitrag helfen oder – je nach Qualität des Einwands – auch eine Replik in Kurzform bringen. Zum Beispiel: [12,14,18,21,28] – was beim diskutierten Artikel fällig wäre und womit sich längliche Repliken in Form dieses Beitrags einfach sparen ließen …

(*) “Zeitschrift” in Anführungsstrichen, denn es ist ja nur eine Webseite und alles das, was eine wissenschaftliche Online-Zeitung ausmacht – z. B. interne Datenbank mit Suchfunktion, DOIs, etc. – fehlt.

 

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Kommentare (7)

  1. #1 hto
    Holographische Konfusion
    16. Februar 2022

    Meesters: “Eines kann niemand übersehen haben: Die vergangen zwei Jahre haben dem Wissenschaftsverständnis ungemeinen Auftrieb gegeben.”

    Das sehe ich ganz anders, [edit: ab hier gelöscht]

    Anm.: Sie können mir und anderen gerne hier widersprechen – aber bitte einigermaßen zum Thema und nicht mit dem immer gleichen Ideen zu gesellschaftlichen Verwerfungen. Danke.

  2. #2 Ludger
    16. Februar 2022

    Natürlich ist das Wissenschaft, mit Binnenkonsens.

  3. #3 RPGNo1
    16. Februar 2022

    @Ludger

    Du bist mir zuvorgekommen. 🙂

    Ich wollte ähnliches anmerken, nämlich dass Homöopathen “die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit so wichtig” ist, dass sie eigene peer-reviewte Zeitschriften haben, um uns dort mit ihren ‘Fortschritten’ in der homöpathischen ‘Forschung’ zu beglücken.

  4. #4 rolak
    16. Februar 2022

    Binnenkonsens

    Sach nix, Ludger, die Methodik der H. et al macht Schule – just heute ist mir ein Analogon zur H-Medikamentenzulassung begegnet: Guckst Du.

  5. #5 hto
    Holographische Konfusion
    16. Februar 2022

    Coronaleugner und die “anderen” Leugner der heuchlerisch-verlogenen Wirklichkeit!? 🙂

    • #6 Christian Meesters
      16. Februar 2022

      Sollte wider Erwarten noch Substanz kommen, werden wir das hier lesen – sonst können Sie sich in einem neuen Thread nochmal versuchen.

  6. #7 Joseph Kuhn
    16. Februar 2022

    Die Internetseite des “Journals” ist selbst im junk-Segment herausragend: keine submission guidelines, keine publishing ethics, kein Herausgeber, kein Beirat, nicht einmal ein Impressum.

    Auch sehr schön, wenngleich nicht ganz so klandestin: https://www.publichealthpolicyjournal.com/. Dort hat Walach seine zurückgezogene Impfstudie recycled. Herausgeber: James Lyons-Weiler. Wie das peer review aussieht, will man nicht wissen.

    In Deutschland fehlt was auf diesem Niveau. Wir brauchen auch ein Zentralblatt für tiefergelegte Wissenschaft. Dass der Verein MWGFD da noch nicht aktiv geworden ist! Die Erstausgabe würde ich kaufen. Für die Titanic bin ich schließlich zu alt.